Ich kann mich noch gut daran erinnern, wie ich in Indien zwischen Büschen saß und auf das schlammige Ufer eines Sees schaute. Ich muss ungefähr fünf Jahre alt gewesen sein. Ein intensives Gefühl von Zeitlosigkeit und Ausdehnung kam über mich, als ich dem Plätschern der kleinen Wellen zuhörte. Die Geräusche der Wellen waren unwirklich und schienen von weit her zu kommen, obwohl sie nur wenige Meter entfernt waren. Seitdem ist das Meditieren am Wasser und die Wahrnehmung der Wellen für mich immer eine besondere Erfahrung. Wellen sind ein besonderes Symbol der Nicht-Dualität des universellen und relativen Lebens. Einerseits ist eine Welle Teil des Ozeans, andererseits könnte der Ozean nicht Ozean sein ohne die Wellen. Die beiden sind untrennbar und ein wundervolles Symbol des Lebens, das die große, universelle und die kleine, relative Sicht vereinigt.
Diese Kindheitserinnerungen hatten einen tiefen und wichtigen Einfluss auf mein gesamtes Leben. Für viele Jahre verbrachten wir die Sommerferien in Griechenland. Ein Ort den ich besonders liebte war ein kleiner Leuchtturm, von dem man das Meer rundum von einer Klippe betrachten konnte. Ich saß für Stunden in tiefer Meditation, hörte den Wind und das Brechen der Wellen an den Felsen. Manchmal kamen dort Delphine vorbeigeschwommen. Mit geschlossenen Augen konnte ich die Geräusche des aufspritzenden Wassers hören, wie sie aus dem Wasser sprangen. Wenn ich meine Augen öffnete, sah ich die tiefe blaue Farbe des Mittelmeers unter mir und die unendliche Bläue des Himmels über mir und ich hatte ein tiefes Gefühl der Ehrfurcht.
Wellen und Ozeane waren schon immer ein Symbol für das Universelle und Relative, sowohl für Kinder wie auch Erwachsene. Der vietnamesischer buddhistische Lehrer Thich Nhat Hanh verwendete dieses Symbol auf eine sehr poetische Art:
»Manche Wellen des Ozeans sind hoch und manche sind niedrig. Wellen scheinen geboren zu werden und zu sterben. Aber wenn wir tiefer schauen, sehen wir, dass die Wellen, obwohl sie kommen und gehen, auch aus Wasser sind, das immer da war. Vorstellungen von hoch und niedrig, Geburt und Tod können auch bei Wellen angewendet werden, aber das Wasser ist frei von solchen Unterscheidungen. Erleuchtung bedeutet für die Welle den Moment, wenn sie erkennt, dass sie Wasser ist. In dem Moment verschwindet alle Angst vor dem Tod« (Hanh 2007, S. 38).
Was Thich Nhat Hanh hier ausdrückt ist, dass unser relatives Leben und das universelle Leben niemals getrennt sind, obwohl wir oft diese einfache Wahrheit nicht erkennen. Die Wellen ändern sich, aber das Wasser nicht. Sobald wir dieses klar sehen, fügt sich alles an seinem Platz ein und wir fühlen uns erleichtert:
»Selbst wenn wir in der Welt der Wellen leben, berühren wir Wasser, wissend, dass eine Welle nichts als Wasser ist. Wir leiden, wenn wir nur die Welle berühren, aber wenn wir lernen, in Verbindung mit dem Wasser zu bleiben, fühlen wir die größte Erleichterung« (Hanh 2007, S. 153).
Diese Erleichterung kommt, wenn man die Vergänglichkeit und Endlichkeit als intrinsische Bestandteile des relativen menschlichen Lebens akzeptiert, während das Universelle sich nicht verändert:
»Sobald du fähig bist, das Wasser zu fangen, wird es dir nichts ausmachen, dass die Wellen kommen und gehen. Du bist nicht länger beunruhigt durch Geburt und Tod der Welle. Du hast keine Angst mehr. Du bist nicht mehr bestürzt über den Anfang und das Ende der Welle, noch ob die Welle höher oder tiefer ist, mehr oder weniger schön. Du bist fähig, diese Ideen loszulassen, da du schon das Wasser berührt hast« (Hanh 2007, S. 157).
Zusammengefasst erleben die meisten Kinder wie Siddhartha Gautama tiefe spirituelle Einsichten, die sie oft in Symbolen, wie dem Rosenapfelbaum, dem Brunnen, dem Nebel oder den Wellen, ausdrücken. Wie wir später sehen werden, erscheinen diese Einsichten spontan, da Kinder und Jugendliche von Anfang an eine natürliche Kapazität zur Spiritualität in sich tragen. Diese Fähigkeit verschwindet nicht, wenn sie erwachsen werden, wie die Biografie des Buddha zeigte. Zwei weitere entscheidende Erfahrungen des Buddha nach seiner Jugend, d. h. als junger Erwachsener, waren die vier Exkursionen (auch bekannt als die vier Zeichen) und die große Abreise – seine Entsagung des bisherigen Lebens.
Die vier Exkursionen
Bei den vier Exkursionen handelte es sich um eine Serie von Ereignissen, bei denen Siddhartha Gautama seinen Palast verlässt und dabei Alter, Krankheit, Tod und einem weisen Mann begegnet. Diese führen letztendlich dazu, dass er sein bisheriges Leben im Überfluss beendet. Wie Schumann es erzählt, verließ Siddhartha Gautama die Palastmauern viermal in einem Pferdewagen, der von vier Pferden gezogen wurde (Schumann 2004, S. 60). Das erste Mal nahm er wahr, wie ein älterer Mann dem Tode nahe war. Bei den folgenden Ausflügen begegnete er einem kranken Mann, einem Leichnam und einem Mönch. Indem er die Begrenzungen und Veränderungen des Lebens erkannte, festigte sich sein Wunsch, Mönch zu werden. Genau zu diesem Zeitpunkt stand die Geburt seines Sohnes Rahula an.
Wenn man diese Geschichte liest, ist es kaum zu glauben, dass Siddhartha Gautama bis zum Alter von 29 Jahren in einer so beschützten Umgebung aufwachsen konnte. Wenn ich an meine eigene Kindheit in Indien denke, wuchsen wir westlichen Kinder ebenfalls in einem geschützten Rahmen in großen Häusern und wundervollen Gärten auf, die von einer hohen Mauer umringt waren. Nur wenige Meter außerhalb der Mauern konnte das reale, pulsierende und chaotische Leben Indiens erfahren werden. Ich kann mich noch gut an Bettler, Erdnussverkäufer und Leprakranke auf der Straße erinnern ebenso wie an die vielen streunenden heiligen Kühe. Als Kinder versuchten wir wiederholt, von Zeit zu Zeit aus dieser beschützten und begrenzten Umgebung zu entfliehen, indem wir von der Schule zu Fuß nach Hause liefen, obwohl uns dieses streng von unseren Eltern verboten war. Eines Tages sah ich einen Begräbnisumzug in den Straßen, was in Indien ein öffentliches Ereignis darstellt. Ich sah zum ersten Mal einen toten Menschen nicht in einem Sarg, sondern offen in weißem Leinen eingehüllt auf einem Pferdewagen, gefolgt von trauernden Familienangehörigen. Es war die erste Begegnung mit einem Leichnam. Ich muss ca. sieben Jahre alt gewesen sein und war tief berührt durch die Erkenntnis, dass Menschen irgendwann aufhören zu leben und dass das Leben an sich nicht unendlich ist. Das Bild des Leichnams hinterließ einen intensiven Eindruck, der mich seitdem begleitet.
Meine eigenen Ausflüge aus unserer beschützten Umgebung ereigneten sich zu einem viel früheren Alter als die von Siddhartha Gautama – und sie hatten eine viel geringere Auswirkung. Siddhartha Gautama war erschüttert und tief berührt über das, was er gesehen hatte, nämlich universelle und unausweichliche Bedingungen des Lebens, die alle Menschen erfahren, nämlich Alter, Krankheit und Tod sowie die Rolle des Mönches als Beispiel für die spirituelle Suche.
Der große Aufbruch
Es muss für Siddhartha Gautama extrem schwierig gewesen sein, seine junge Familie zu verlassen. Man kann sich seine inneren Konflikte und seinen Aufruhr gut vorstellen. Wie Schumann (2004) beschreibt, war es Siddhartha Gautama nicht möglich, seinen gerade neugeborenen Sohn anzuschauen oder zu berühren, aus Angst, dass er es dann nicht schaffen würde, zu gehen. Stattdessen floh er um Mitternacht auf seinem Pferd in Begleitung eines treuen Dieners. Seine Frau Yasodhara schlief mit seinem neugeborenen Sohn Rahula in ihren Armen, als er seine junge Familie für immer verließ.
Heutzutage ist es schwer sich vorzustellen, dass Siddhartha Gautama seinen Sohn tatsächlich Rahula nannte, ein Name der wörtlich »Fessel«, »Zwang«, »Einschränkung«, »Kette« und »Beschränkung« bedeutet – kein schöner Name für ein junges Baby. Man begegnet solchen negativen Projektionen oft in der Psychotherapie oder Familienberatung, gerade wenn Eltern negative Gefühle der Missgunst und Ablehnung gegenüber ihrem eigenen Kind in sich tragen. Diese negativen Projektionen können so ausgeprägt sein, dass selbst junge Kinder mit Namen wie Monster, Tyrann oder Sargnagel benannt werden.
Siddhartha Gautama muss intensiv gespürt haben, dass ein Familienleben seine spirituelle Berufung behindern würden. Andererseits war das Opfer seiner eigenen jungen Familie gewaltig. Diese Aufgabe wurde im Laufe der Zeit zu einem Ideal der spirituellen Entsagung stilisiert. Allerdings kann man diesen Schritt auch sehr kritisch sehen, wenn