Langenberg geht im Detail auf die Rolle von Kindern im alten indischen Buddhismus ein. Im Prinzip wurde jede Person unter einem Alter von 20 Jahren nach den buddhistischen klösterlichen Traditionen als Kind angesehen (Langenberg 2013, S. 45). Novizen konnten dem Kloster ab dem Alter von sieben Jahren beitreten und ab dem Alter von 15 Jahren geweiht werden. Allerdings war eine volle Ordination nur ab dem oben erwähnten Alter von 20 Jahren möglich. Novizen mussten zehn Gelübde einhalten, im Gegensatz zu den über 200 Regeln, an die sich Mönche halten mussten. Kinder wurden für das Leben eines Mönches als emotional und körperlich ungeeignet angesehen, da es das Wandern, Reisen und das Erleiden von Hunger und Unbequemlichkeiten beinhaltete.
Dies kann anhand mehrerer Begebenheiten mit dem Buddha veranschaulicht werden. Einmal, nachdem eine Gruppe von Jugendlichen ordiniert wurde, einschließlich eines Jungen namens Upali, wurden sie hungrig, fingen an zu weinen und flehten nach Essen. Der Buddha fragte nach, ob er das Weinen von Kindern gehört hätte. Nachdem seine Frage bejaht wurde, legte er das Mindestalter für die Ordination auf 20 Jahre fest, um gerade solche schwierigen Situationen des Nahrungsmangels zu vermeiden. Langenberg zitiert eine wichtige Passage aus den buddhistischen Texten, die der Buddha zu Ananda, einem seiner Anhänger, spricht:
»Ananda, keiner sollte vor dem Alter von 20 Jahren ordiniert werden. Warum sollte das so sein, Ananda? Der Grund ist folgender: Diejenigen, die jünger als 20 Jahre sind, sind natürlicherweise unfähig, die Belastungen von Kälte und Hitze, Hunger und Durst, Fliegen, Bienen und Mücken, Wind und Sonne, Skorpionen und giftigen Schlangen, Beschimpfungen und Pöbeleien, Leiden des Körpers auszuhalten, die unerträglich, hart, beißend, unangenehm, lebensbedrohlich sind, diese unvorstellbaren Phänomene die immer auftreten und fließen« (Langenberg 2013, S. 50).
Die eingeschränkte Fähigkeit, Hunger auszuhalten, wurde deshalb als eine der Haupthindernisse für die Ordination von Kindern angesehen. Eine absolute Voraussetzung für Kinder, um Novize zu werden, war ihre Fähigkeit, Krähen zu verjagen. Zu einer anderen Gelegenheit ordinierte Ananda zwei Waisenkinder, deren Eltern umgebracht wurden. Per Zufall waren es die eigenen Neffen des Ananda. Die Abmachung für die Kinder war, dass sie Bedienstete der Mönche wurden, indem sie ihnen Milch und Blumen anboten. Im Gegenzug erhielten die Kinder die übrig gebliebenen Nahrungsmittel aus den Bettelschalen der Mönche (Langenberg 2013, S. 52). Als Diener der Mönche hatten Kinder die Rolle von »Handlangern, Fegern, Putzpersonen, Boten, Wachleuten, Dienern und in diesem Fall auch Verscheuchern von Krähen.« Die Rolle der Novizen beinhaltete weiterhin, hinter den Mönchen herzulaufen und ihre Bettelschale zu halten.
Der Buddha legte fest, dass es in Ordnung sei, ein Kind ab dem Alter von sieben Jahren zu initiieren, solange es dazu fähig war, Steine zu heben und Krähen zu verjagen (Langenberg 2013, S. 53). Wie Langenberg ausführte, scheint »die Regel des Krähenverjagens einen Versuch darzustellen, einen legitimen Platz für junge Kinder innerhalb der Klosterhierarchie zur Verfügung zu stellen, vor allem im Fall der armen und verwaisten Kinder« (Langenberg 2013, S. 54). Im Laufe der Zeit kümmerten sich die Novizen um die älteren Mönche und bedienten sie. Im Gegenzug wurden die älteren Mönche zu ihren Mentoren, Lehrern und Unterweisern. Wenn alles gut verlief, entwickelte sich eine positive Vater-Sohn-Beziehung, von der beide Seiten profitierten.
Kinder im modernen Indien
Kindheit als umschriebene Lebensperiode hat sich historisch enorm verändert. Es ist deshalb wichtig, unsere Vorstellungen von Kindheit nicht unreflektiert auf eine 2 500 Jahre zurückliegende Zeit im alten Indien anzuwenden. Wie uns der Anthropologe David Lancy (2015) in seinem umfassenden Werk über Kindheitsstudien daran erinnert, unterscheiden sich die Ideale und Auffassungen von Kindern wie auch Erziehungsstilen enorm von einer Kultur zur nächsten. Die auf Kinder fokussierten Gesellschaften der westlichen Industrienationen sind in keiner Weise als Norm anzusehen. Im Gegenteil, das Spektrum der Rolle von Kindern reicht von einer utilitaristischen, nützlichkeitsorientierten Sicht von Kindern als Beitragende zum Familieneinkommen (die Lancy mit dem englischen Wort »chattel«, d. h. Besitz, benennt) bis hin zu der idealisierten Rolle von Kindern in westlichen Gesellschaften, die materiell unterstützt werden und denen eine verlängerte Schutzzeit gewährt wird (die Lancy ironischerweise mit dem Begriff »cherub«, d. h. Engelchen, bezeichnet).
Zusätzlich zu den deskriptiven anthropologischen Zugängen ist es sehr aufschlussreich, sich psychodynamische Studien zur Kindheit anzuschauen, die die innerpsychischen Abläufe von Kindern aufzeichnen. Diese Analysen liegen vor allem für Kinder in Indien vor. Der Psychoanalytiker Sudir Kakar widmete sich dem Studium und Verständnis diverser Aspekte der indischen Psyche, einschließlich ihrer bewussten und unbewussten Domänen (Kakar 2012a). In seinem Buch über die Inder, das er mit seiner Frau Katarina geschrieben hat, versuchte er ein Psychogramm von Indien, diesem riesigen Subkontinent mit 1,3 Milliarden Einwohnern, zu erstellen. Diese Art von Verallgemeinerungen können problematisch sein, aber Kakar und Kakar konnten überzeugend darlegen, dass der Hinduismus die derzeitig dominante Kultur Indiens darstellt. Der Buddhismus ist zu einer Minderheitsreligion geworden. Einige der gemeinsamen Aspekte der indischen Identität sind: eine Ideologie von Familienbeziehungen, die in ein erweitertes Familiennetzwerk eingebettet sind; soziale Beziehungen, die immer noch vom Kastensystem beeinflusst sind; Vorstellungen des Körpers, die auf der ayurvedischen Medizin beruhen; unendliche Mythen, Legenden und Geschichten, die den imaginären kulturellen Hintergrund Indiens bilden (Kakar und Kakar 2006, S. 9).
Diese gemeinsame und geteilte Kultur Indiens hat ihre Ursprünge in den prägenden Kindheitserfahrungen, wie Kakar in seinem hervorragenden Frühwerk über die innere Welt des indischen Kindes ausgearbeitet hat, das erstmals 1978 veröffentlicht wurde (Kakar 2012b). Die frühe Sozialisation von indischen Mädchen und Jungen unterscheidet sich erheblich. Mutterschaft hat eine hohe traditionelle und emotionale Bedeutung für Mädchen. Nach der Heirat, die zum Teil schon im Alter von 12–18 Jahren vollzogen wird, nehmen Mädchen zunächst einen niedrigen Status als Ehefrauen und Schwiegertöchter im Haushalt ihrer Männer ein. Die einzige Möglichkeit, dieser Rolle zu entfliehen, ist es, selbst Mutter zu werden. Als Mütter, vor allem von Jungen, herrschen sie über den Haushalt und erlangen wieder einen hohen Status in der Familie.
Dies ist der Grund, warum die sogenannte »Doppelgeburt« weniger ausgeprägt bei Mädchen verläuft als bei Jungen. Kakar beschrieb die Doppelgeburt als plötzliche Veränderung einer verlängerten und beschützten frühen Kindheit, die bis zu dem Alter von drei, manchmal sogar fünf Jahren reicht. Diese Phase wird vor allem durch die Mütter beeinflusst und dauert bis zum Eintritt in die durch die Väter beeinflusste Welt an. Der Übergang im Alter von 3–5 Jahren ist oft abrupt und dramatisch, verbunden mit einem tiefen Gefühl von Verlust, da diese beiden Phasen vor und nach der Transition sich so unterscheiden.
Während der verlängerten frühen Kindheit bis zum Alter von 3–5 Jahren haben indische Kinder eine tiefe Verbindung zu ihren Müttern und den vielen Ersatzmüttern in der erweiterten Familie. Das Kind erlebt enge, sinnliche, körperliche Berührungen mit anderen, wird verwöhnt und Tag und Nacht gefüttert. Fast alle Wünsche werden erfüllt. Mögliche intrapsychische Residuen dieser frühen Erfahrungen sind Gefühle und Überzeugungen, dass die Welt gutartig ist, man geliebt wird und man anderen Menschen vertrauen kann. Mütter sind in Fantasien sowie in magischen und mystischen Überzeugungen allgegenwärtig, die über das ganze Leben aktiv bleiben können. Wie wir später sehen werden, entspricht diese Beschreibung einem »positiven Mutterkomplex« in der Terminologie von C. G. Jung.
Der plötzliche Eintritt in die väterliche Welt ist für Mädchen weniger belastend, da sie neue Aufgaben innerhalb der familiären mütterlichen Umgebung übertragen bekommen. Für Jungen dagegen ist die Trennung von ihren Müttern plötzlich und irreversibel. Es ist ein großer Schock für sie, die komplette Umkehrung ihres täglichen Lebens mit neuen Erwartungen und Aufgaben zu erfahren. Väter und andere männliche Verwandte spielen jetzt eine größere Rolle für sie. Emotional neutrale Beziehungen überwiegen. Zunehmende Verantwortung, das Einhalten von Regeln und das Respektieren von sozialen Hierarchien wird wichtig. Mögliche intrapsychische Langzeitresiduen können