Buddhismus und kindliche Spiritualität. Alexander von Gontard. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Alexander von Gontard
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9783170351615
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Kontext der Begriff »Geburt« verwendet wird. Ein wichtiger Aspekt der Lehren des Buddha ist der Begriff des »abhängigen Entstehens«. Der Begriff des abhängigen Entstehens besteht aus zwölf Gliedern, von denen eines als Geburt (oder »Jati«) bezeichnet wird. Es ist dabei sowohl die Geburt im wörtlichen Sinne von Geburt und Wiedergeburt wie auch im übertragenen, symbolischen und psychischen Sinne der Prozess, bei dem etwas Veränderliches in etwas Permanentes übertragen wird.

      Diese Konzepte sind kognitiv sehr schwer zu verstehen, aber sie sind durch Meditation und Reflexion zugänglich. Ohne sich in Einzelheiten zu verlieren, ist die Grundaussage des Buddha, dass alle Phänomene als Folge von Bedingungen und Gegebenheiten entstehen. Alle relativen Phänomene des Lebens sind an sich nicht problematisch – sie kommen und gehen wie die Wolken und wie alle anderen sich verändernden Elemente der Natur, d. h., sie sind unbeständig. Die Schwierigkeiten entstehen dann, wenn man an etwas festhalten möchte, dass sich nicht festhalten lässt. In diesem Augenblick wird etwas zu einem Objekt, zu einer Substanz, zu etwas Festem, das dann durch die unvermeidliche symbolische Sequenz von Geburt, Altern, Krankheit und Tod läuft. In buddhistischen Lehren kann Erkenntnis diesen Prozess anhalten. Ohne Ergreifen, Festhalten und Klammern kann Leben in seiner Veränderbarkeit seinen Weg nehmen, ohne zum Problem zu werden.

      Auch dies mag kognitiv schwer zu verstehen sein, jedoch erklären die Zusammenhänge, warum Geburt in buddhistischen Lehren nicht als Lösung betrachtet wird, ganz im Gegensatz zur christlichen Tradition. Während das Symbol der Geburt im Christentum für positive Hoffnung auf Erlösung und Trost steht, wird es im Buddhismus als ausweglose Zwickmühle erkannt, sofern man nicht wachsam ist und an den Objekten des Lebens festzuhalten beginnt.

      Cala Sutra

      Eine kurze Lehrrede (die Cala Sutra) des Buddha verdeutlicht diesen Punkt sehr gut (Buddha, Connected Discourses Band 1, 2000, S. 226). Mara, die buddhistische Entsprechung des Teufels, wendet sich an eine Nonne mit dem Namen Cala und fragt sie, was sie nicht befürwortet. Darauf antwortet sie: »Ich befürworte die Geburt nicht, mein Freund.« Daraufhin fragt Mara:

      »Warum kannst du die Geburt nicht gutheißen?

      Sobald geboren, genießt man Sinnesfreuden.

      Wer hat dich zu der Aussage überredet:

      ›Nonne, befürworte nicht die Geburt?‹«

      Daraufhin antwortete Cala weise:

      »Für denjenigen, der geboren wurde, gibt es Tod;

      einmal geboren, begegnet man Leiden –

      Unfreiheit, Mord und Elend –

      aus diesem Grund sollte man die Geburt nicht befürworten.

      Der Buddha hat das Dharma gelehrt,

      die Überwindung von Geburt;

      um alles Leiden abzulegen,

      hat er mich in die Wahrheit verankert.

      Diese Lebewesen jedoch, die mitten in der Form leben,

      und diejenigen, die in der Formlosigkeit verbleiben –

      ohne die die Möglichkeit, Erlösung zu verstehen,

      werden sie in einer neuen Existenz wiederkommen.«

      Daraufhin erkannte Mara, der Teufel, dass die Nonne Cala ihn durchschaut hatte und verschwand auf der Stelle, traurig und enttäuscht. Es ist deutlich erkennbar, dass das Symbol der Geburt in der Lehre des Buddha eine völlig andere Bedeutung hatte, als es Eltern bei der Geburt ihres Kindes erleben.

      Als Kinderarzt hatte ich während meiner Ausbildung in der Neugeborenen-Medizin das Privileg, Hunderte von Geburten zu erleben. Diese waren jedoch keine einfachen, normalen Geburten, sondern Hochrisikoentbindungen, die die Anwesenheit eines Kinderarztes erforderten. Ich kann mich gut daran erinnern, wie ich außerhalb des Operationssaales stand und das rasche, präzise operative Vorgehen beim Kaiserschnitt beobachtete. Die Hebamme übernahm das Baby und trug es, in Stoff gehüllt, nebenan zum Kinderarzt. Ich übernahm dann das Neugeborene zusammen mit einer Kinderkrankenschwester.

      Manche Babys waren sehr schwer krank und benötigten sofortige, intensive medizinische Hilfe. In einem professionellen Ablauf wurden sie abgesaugt, untersucht und intubiert. Eine Infusion wurde gelegt und der Transport auf die Neugeborenen-Intensivstation wurde vorbereitet.

      Allerdings war dies bei manchen Neugeborenen nicht notwendig. Alles, was erforderlich war, war den Schleim abzusaugen, für Wärme zu sorgen und etwas Sauerstoff bereitzustellen, sie zu beobachten und die ersten Atemzüge des Lebens wahrzunehmen. Dieses waren ausgesprochen bereichernde Momente der Gelassenheit, Freude und Stille. Oft war ich über das Wunder eines neuen Menschenlebens zu Tränen gerührt. Geburt hat immer eine positive Konnotation für mich. Dies ist auch der Grund, warum ich große Schwierigkeiten mit der negativen Bedeutung von Geburt in den Lehren des Buddha habe.

      Nagarjuna

      Ein weiteres Beispiel von Geburt in buddhistischen Schriften findet sich in einem schönen Gedicht von Nagarjuna. Nagarjuna ist ein verehrter, radikaler indischer Weiser und Kommentator, der im zweiten Jahrhundert nach Christi Geburt in Indien lebte, d. h. über 600 Jahre nach dem Tod des Buddha. Mehr als das, er ist ein Dichter, der in seinen Schriften durch eine extreme Form der dialektischen Infragestellung Annahmen dekonstruiert. In seinem Gedicht mit dem Namen »Geburt« umrundete er die Grundfrage »Was ist Geburt?«, ohne Antworten zu geben, die nicht in Worte gefasst werden können (Batchelor 2000, S. 90–93).

      Vier Strophen des Gedichtes »Geburt« sollen diesen Punkt illustrieren:

      »Wäre Geburt konditioniert,

      würde sie geboren werden, leben und sterben

      wie alle konditionierten Gegenstände.

      Wäre sie nicht konditioniert, wie könnte sie

      konditionierte Dinge beschreiben?

      Wie kann ein Kind,

      das noch nicht geboren wurde,

      sich selbst gebären?

      Was geboren wurde,

      was noch nicht geboren wurde

      und was geboren wird,

      gebärt sich nicht selbst.

      Alles ist voneinander abhängig

      und ist natürlicherweise entspannt und in Ruhe.«

      Was drückt Nagarjuna in diesem Gedicht aus? Zunächst sieht man klar, dass Geburt weder idealisiert noch abgelehnt wird. Darüber hinaus dekonstruiert Nagarjuna mit einem sehr radikalen Hinterfragen das Symbol der Geburt und seine assoziierten Bedeutungen. Er weist darauf hin, dass Wahrheit nur jenseits von Worten und Namen gefunden werden kann.

      Zusammengefasst wird deutlich, dass Geburt und Kindheit in den klassischen buddhistischen Texten und der traditionellen Kunst eine weniger bedeutsame Rolle spielt, als zum Beispiel im Christentum. Dies mag an der historischen Rolle von Kindern zur Zeit des Buddha liegen. Auch Buddhas eigene Biografie kann dafür verantwortlich sein, dass dem Kindesalter weniger Bedeutung zugeschrieben wird. Allerdings erfüllen die Mythen um die Geburt und Kindheit des Buddha alle Voraussetzungen für den Archetyp des göttlichen Kindes, wie wir in einem späteren Kapitel sehen werden. Im nächsten Kapitel sollen zunächst historische und soziologische Aspekte von Kindheit in asiatischen Ländern umrissen werden.

      3 Kinder in Indien und anderen asiatischen Ländern

      Kinder im alten Indien

      Die Rolle von Kindern hat sich, abhängig von historischen und kulturellen Kontexten, über die Jahrhunderte verändert.