Auf der Flucht - mein Leben als Hells Angel. Jørn Nielsen. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jørn Nielsen
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Философия
Год издания: 0
isbn: 9788711524268
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Gang. Trotz schwerer Wolken im Hinterland war es eine schöne Zeit. Ich hatte meine Notizen vollendet und an die hundert Seiten meines Buches geschrieben. Ich schrieb nur, wenn ich allein war, und deshalb kam ich nur langsam voran. Helle mußte wieder arbeiten, und ich hütete meine Ferienhausidylle, Die Zeitungen berichteten immer wieder über die Anstrengungen der Polizei, die uns reichlich halbherzig vorkamen. Angeblich war ich mal hier, mal dort gesichtet worden. Etliche rotbärtige Männer, deren einziges Verbrechen es war, ähnlich auszusehen wie ich in der Zeit vor dem Mord an Makrele, wurden auf mehr oder weniger brutale Manier festgenommen. Nur die Zeitung Holbæk Amts Venstreblad traf ins Schwarze. »Wir sind durchaus nicht sicher, daß Jönke sich in Odsherred versteckt«, erklärte Kriminalkommissar E. O. Steiness von der Polizei Kopenhagen gegenüber dieser Zeitung. Sie hätten aber sicher sein können, ich war ja schließlich dort.

      Aber nicht mehr lange. Ohne es zu wissen, verbrachten Helle und ich unser letztes Wochenende im Sommerhaus. Als meine Brüder kamen, um Helle nach Hause zu fahren, hatten sie meine Fahrkarte bei sich. Wir waren nicht gerade glücklich. Als Frischverliebte klebten wir aneinander wie Magnet und Eisenspan. Helle war leicht frustriert darüber, daß ich die große Welt erleben sollte, während sie zu Hause im Büro malochte. Wir verabredeten, daß sie nach Beendigung ihrer Ausbildung hinterherkommen sollte. Wohl gemerkt, wenn wir bis dahin noch immer Feuer und Flamme füreinander wären.

      Am Abend vor meiner Abreise wurde Helle zu mir gebracht. Die Brüder sorgten für Steaks und Wein und ließen uns dann allein. Es war einer der Abende, die einfach kein Ende nehmen dürften. Hungrige Körper, die nicht genug bekommen konnten, liebten sich und verflochten sich miteinander. Wir klammerten uns an die letzten Stunden wie an ein Brett im Meer. An den Wänden, die uns umgaben, nahmen die Dämonen der Liebe im Licht der Kerzen an allem teil. Bis wir, ohne es zu wollen, in die Finsternis des Schlafs hineinglitten.

      Der Morgen war schön und grauenhaft zugleich. Helles Wärme und die Sonne, die verräterisch durch das Schlafzimmerfenster schaute. Und dann mein Bruder, der zwei Dinge für mich mitgebracht hatte. Das eine war mein neuer Paß. Ein weiteres Mal hatte ich mich gehäutet. Das zweite war ein Satz Kontaktlinsen. Das Bild in meinem neuen Paß hatte braune Augen, meine dagegen waren blau. Die gefärbten Kontaktlinsen hatte ein Bekannter zwei Tage zuvor einem Schauspieler gestohlen. Ich hatte noch nie Kontaktlinsen benutzt und fand die Vorstellung schrecklich. Aber ich mußte sie einsetzen! Weder Helle noch mein Bruder hatten Ahnung von Kontaktlinsen, und es war eine Höllenarbeit, sie unterzubringen. Nach mehreren vergeblichen Versuchen mußten wir sie fast mit dem Hammer festschlagen. »Und nicht vergessen. Vor dem Einschlafen mußt du sie rausnehmen!« mahnte mein Bruder. Danke, Schicksal. Die Reise mit den braunen Augen würde mindestens dreißig Stunden dauern.

      Der Bahnhof von Slagelse schwitzte in der Sommerhitze vor sich hin. Mein Bruder und ich verabschiedeten uns im Auto voneinander, und zusammen mit Helle betrat ich das dunkle Bahnhofsgebäude. Ich trug meinen hellen Anzug, ein hellblaues Hemd und weiße Schuhe. Es war nicht gerade ein Aufzug nach meinem Geschmack, aber ich sah aus wie frischgefallener Schnee. Helle trug mein Handgepäck, während ich mich mit einem riesigen, schweren Koffer abmühte. Die Fahrkarte hatte ich ja schon, und wir mußten bis zur Abfahrt des Zuges eine halbe Stunde totschlagen. Helle, dieses freche Gör, zog mich auf die Damentoilette des Bahnhofs. Mit Koffer und dem ganzen Schweinkram. Jetzt war Vögeln angesagt! Hoch mit dem Rock, keine Unterhose, und dann über das Klo. Hier stand ich – der meistgesuchte Mann in Dänemark, und fickte im Bahnhof Slagelse munter fürbaß. Hoffentlich hatte niemand uns entdeckt oder an der Sache Anstoß genommen. Was für ein Ort für einen Fick!

      Mit einem Jammerlaut setzte der Zug sich in Bewegung. Ein Ruck vorwärts und einer zurück, und dann waren wir unterwegs. Helle stand unter meinem Fenster auf dem Bahnsteig. Wir konnten uns gerade noch an den Händen halten. Sie war traurig und zeigte es deutlich. Ich fand unsere Trennung auch nicht so toll, aber ich würde doch immerhin etwas Neues erleben. Helle ließ meine Hand los und zog statt dessen ein Taschentuch hervor. Winke, winke, es war wie in einem alten Film. »Benimm dich jetzt anständig«, rief sie noch.

      Helle und der Bahnhof Slagelse verschwanden hinter mir. Ich ließ mich mit verlegener Miene auf meinen Sitz fallen. Die anderen Fahrgäste im Abteil, eine ältere Dame und zwei Paare, hatten allesamt ein verständnisinniges Lächeln aufgesetzt. Eigentlich wollte ich Dänemark ja gar nicht verlassen, und die Landschaft draußen schien mit jeder Schwelle, die wir passierten, schöner und anziehender zu werden. Ich fühlte mich dänischer denn je. Aber andererseits freute ich mich auch auf die Reise und meine neuen Abenteuer. Wenn ich schon sechzehn Jahre brummen mußte, dann konnte ich vorher mein Gehirn ja noch mit Erinnerungen aufladen.

      Bahnhof Odense. Es war noch immer früher Nachmittag, und die Sonne gab sich alle Mühe, um mich aus meinem Anzug zu brennen. Ich schleppte mich nach draußen und machte mich auf die Suche nach dem Treffpunkt. Es gibt viele Möglichkeiten, ein Land zu verlassen, wenn man gesucht wird. Ich hatte mich für etwas so Simples wie eine Busreise entschieden. Die erste Etappe begann in Odense, und ich hielt vergeblich nach dem Bus oder Mitreisenden Ausschau. Nachdem ich mich erkundigt hatte, war ich dann weniger besorgt. Ich befand mich am richtigen Ort, und bald trafen die ersten Reisegefährten ein. Ein junger Schwarzer, ein junger Weißer und ein jüngeres Paar. Wie ich stammten sie aus Seeland, und ich konnte sie mit der Mitteilung beruhigen, daß es hier losgehen würde.

      Der Bus – oder genauer gesagt das Taxi –, das uns weiterbefördern sollte, hatte Verspätung. Es war ein langer Mercedes mit jeder Menge Platz für uns alle. Eine ältere Dame lenkte die Kutsche durch Fünen und dann über die neue Brücke über den Kleinen Belt. Wir plauderten gutgelaunt miteinander und rissen viele Witze darüber, daß wir mit dem Taxi nach Paris fahren würden. Die Fahrt endete dann allerdings in Kolding. Wir wurden mit der Mitteilung abgesetzt, daß bald ein Bus kommen würde. Wir setzten uns in ein Restaurant und behielten zugleich den Busbahnhof im Auge. Ich nutzte die Gelegenheit, um meine neuen Reisegefährten kennenzulernen. Je mehr Menschen ich in meiner Nähe hätte, um so sicherer würde ich sein. Und das fiel mir nicht schwer. Sie waren wie ich, jung und gut drauf. Immer, wenn ein Bus auf den Platz fuhr, riefen wir: »Da ist er!« Aber erst, als ein alter Klapperkasten auftauchte, war es soweit. Wir betrachteten das Trauerspiel durch die Restaurantfenster und wechselten dann Blicke. »Meint ihr nicht, daß der falsch parkt«, schlug der Schwarze vor. Das Gerümpel hatte wirklich keine Ähnlichkeit mit dem Bus aus dem Reiseprospekt.

      Aber das machte nichts. Er gehörte uns und würde uns zur Grenze bringen. Der Bus war etwas über die Hälfte mit Fahrgästen aus dem nördlichen Jütland gefüllt. Wir setzten uns auf die hintersten Sitze. Die anderen Reisenden betrachteten uns schon als Team.

      Auf dem Weg nach Deutschland lasen wir noch weitere Fahrgäste auf. Haderslev. Åbenrå, Padborg und dann die Grenze. Und mir schien eine zusätzliche Qual zugedacht zu sein. Vierzig Meter, gleich vor der Grenzkontrolle, machten wir kehrt und fuhren wieder ins Land hinein. Wir mußten noch jemanden in Tondern abholen.

      Eine halbe Stunde später hielten wir endlich an der Grenze. Jetzt kam es darauf an. Wenn sie mich hier nicht erwischten, würden sie mich niemals fangen. Langsam rollten wir der Grenze entgegen. Der dänische Kontrolleur würdigte uns nicht eines einzigen Blickes. Klasse, dachte ich. Die wußten von mir und hatten vermutlich meinen Steckbrief ausgehängt. Bei den Deutschen war das wohl kaum der Fall. Der Bus bremste und kam dann zum Stillstand. »Pässe bereithalten«, rief der Fahrer. Alle zogen ihre Papiere hervor, und ein deutscher Zollbeamter enterte die Postkutsche. Ich warf einen Blick in meinen Paß, die Ähnlichkeit war nicht umwerfend. Das einzige, was einigermaßen stimmte, waren die braunen Augen, und die waren nicht einmal meine eigenen. Der Zollbeamte kam näher und schaute die ganze Zeit immer wieder flüchtig nach rechts und links. Ich hielt ihm meinen Paß hin wie alle anderen. Dann entdeckte ich, daß mein Nebenmann einen israelischen Paß hatte. Da wußte ich, daß alles gutgehen würde, und richtig! Der deutsche Beamte, schon ein älteres Semester, würdigte mich kaum eines Blickes. Der einzige Paß, den er sich genauer ansah, war der meines Nachbarn! Ein Schwarzer! Noch dazu mit jüdischem Paß! Das war mehr, als der Germane ertragen konnte. Aber der Paß war in Ordnung, und der Beamte verschwand mit einem »Gute Reise« aus dem Bus. Wir fuhren los und befanden uns nun in Deutschland.

      Auf der anderen Seite der Grenze wartete der Bus der Busse. Es gab ein ganzes Meer davon. In