Booklove. Daphne Mahr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Daphne Mahr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783764192754
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zwei Wochen war das Zottelvieh erst in der Katzenklappe stecken geblieben, woraufhin ich unserer alten Nachbarin dabei geholfen hatte, die verzweifelt zappelnde Kunigunde zu retten.

      Aber was, wenn die Geräusche gar nicht von Mäusen kamen? Sondern von … Nee. Ich räusperte mich und schob alle Überlegungen beiseite. Bloß nicht reinsteigern. Das war genauso, wie wenn man sich nachts nicht mehr aufs Klo traut, nur weil man sich vorher einen blutrünstigen Horrorschinken mit dämonenbesessenen Dreijährigen oder üblen Psychomördern reingezogen hatte. Nichts weiter als Kopfsache. Dieses Zeug entstammte der Fantasie abgedrehter Drehbuchautoren, solche Dinge passierten nicht in echt. Ich musste vernünftig bleiben. Also las ich mit möglichst gelassener Stimme:

       Esmeralda schlich durch den nachtdunklen Wald. Aus allen Winkeln glaubte sie …

       »Lies den Anfang.«

      Scheiße. Schon wieder. »Was soll das, Leo?«, rief ich erschrocken.

      Leona hob verwundert den Kopf. »Ich habe doch gar nichts gemacht!«, sagte sie alarmiert.

      »Ja, klar. Haha, ich lach mich tot.« Genervt wendete ich mich wieder den Buchseiten zu. »… ein gespenstisches Raunen …«

       »Anfang!«

      Okay. Jetzt reichte es. Irgendwo hatte der Spaß sein Ende. Ich donnerte den Einband zu. »Hör auf! Das ist nicht lustig!« Doch als ich meine Freundin anschaute, merkte ich, dass ihr Gesicht ganz blass war. Wie ein heller Punkt stach es aus der Dunkelheit hervor. »Ich war das echt nicht«, flüsterte sie mit erstickter Stimme. »Aber ich hab es gehört.« Sie griff sich ängstlich an den Hals. In der Finsternis konnte man es nicht sehen, aber vermutlich bildeten sich dort gerade ihre roten Panikpusteln. Die bekam Leona vor jeder Matheklausur und offenbar auch, wenn es spukte.

      »Logisch warst du das«, entgegnete ich ein bisschen hoffnungsvoll. Ehrlich gesagt, wollte ich mir wirklich nicht überlegen, ob mein Uropa im Laden herumspukte. Das hatte ich Philippa erzählt, um ihr Angst zu machen. Aber heute fand ich den Gedanken selbst nicht mehr witzig.

      Und Leona offensichtlich auch nicht. Sie klapperte bereits panisch mit den Zähnen. »Nein, Emma, das war ich nicht«, sagte sie. »Wie lange dauert das denn noch, bis dein Dad bemerkt, dass er uns vergessen hat?«

      Genau in diesem Moment klappte der Buchdeckel wie von selbst auf und legte die erste Seite frei. Ach du Schande, was lief hier für ein abgefahrener Scherz? Hockte Pa gemeinsam mit dieser aufgeblasenen Autorenschnepfe in einem Versteck und lachte sich einen Ast? Wenn dem so war, dann fand ich das alles andere als unterhaltsam.

      Ich schlug das Buch hastig wieder zu, als sei nichts gewesen.

      »Ist ein Fenster offen?«, flüsterte Leona mit starrem Blick auf das Lesepult. Jetzt war sie nicht mehr bleich vor Angst, sondern fast schon weiß wie Milch.

      »Welches Fenster?« Ich lehnte mich mit meinem ganzen Gewicht auf den Einband, damit er sich im Fall der Fälle nicht wieder öffnen konnte. »Außer dem Schaufenster gibt es hier keins.«

      »Aber wie war das dann möglich?« Bei dieser Frage zitterten Leonas Lippen. Ich konnte nicht antworten, denn ich spürte ein furchterregendes Kribbeln unter der Handfläche, genau an der Stelle, an der ich mit dem Buch in Berührung kam. Als würden Hunderte kleine Ameisen an meinen Fingern entlangkrabbeln. Und dann … bissen sie zu! Panisch zuckte ich zurück, so hastig, dass ich dabei fast vom Stuhl kippte. Im selben Moment blätterte sich das Buch erneut bis zum ersten Kapitel auf. Ich sprang in die Höhe und wich langsam ein Stück nach hinten. »Was zum …?«

      »Lies den Anfang!« Klar und deutlich die heisere Stimme eines Jungen. Sie drang … aus den Seiten des Buches? Von der Decke? Aus den Regalen um uns herum?

      Verdammt. Ich hatte offensichtlich den Verstand verloren. Seltsam war nur, dass Leona es auch hörte. Und verrückt wurde man normalerweise nicht gemeinsam, oder etwa doch?

      Unsicher trat ich wieder einen Schritt auf das Buch zu und beleuchtete die aufgeklappte Textstelle. Die Rosenranken der Überschrift drehten sich wild im Kreis.

      »Zeitsprung für Anfänger«, begann ich dennoch ganz langsam zu lesen.

       Der Junge saß eng neben Esmeralda auf der Holzbank, über den beiden breitete sich der nachtschwarze Himmel voll funkelnder Sterne aus. Esmeralda konnte in jeder Faser ihres Körpers fühlen, wie seine Hand warm und kitzelnd nach ihrer griff. Immer noch trug sie die dunkle, venezianische Maske. Er hingegen hatte seine bereits abgestreift und zu den Füßen ins Gras fallen lassen. Mitternacht war vorbei, man durfte das Geheimnis rund um die eigene Identität lüften. Aber in Wahrheit war es gar keines. Esmeralda wusste, wer neben ihr saß, wer sie zu den Klängen von Tschaikowskys Blumenwalzer mit Lachshäppchen gefüttert hatte und wer in den vergangenen Stunden ihr Tanzpartner gewesen war. Dennoch konnte sie jetzt kaum noch atmen vor Aufregung. Es war deutlich, was er plante. Die Gedanken an Phil drängten sich in ihren Kopf, das schlechte Gewissen. Sie hatte ihn hintergangen, mit jedem einzelnen Walzerschritt in Vinzenz’ starken Armen und jedem Bissen von den köstlichen Schnittchen in seiner Hand. Gleich würde sie ihren schandhaften Gefühlen erliegen. Vinzenz zog sie mit jeder Sekunde mehr und mehr in seinen Bann, obwohl sie ahnte, dass es wie so oft ein Trugspiel war. Sie war geblendet von seinem charmanten Grinsen, mit dem er versuchte, die Dunkelheit seines Charakters zu verber…

      Mitten im Satz brach ich ab. Die Buchstaben hatten sich bewegt. Zwar nur für einen kurzen Moment, doch eindeutig waren V und Z im Namen Vinzenz auf und ab gehüpft wie zwei Flummibälle.

      Mir wurde schlecht. Unruhig warf ich einen Blick auf mein Handy.

      23 Uhr 39.

      Scheiße. Wie würde es denn erst in einundzwanzig Minuten, mit Beginn der Geisterstunde, zugehen, wenn es jetzt schon so spukte? Krochen dann kopflose Untote aus der Kassenlade?

      Und machten sich weitere Bücher selbstständig? Das war ja eine absolut schauerliche Vorstellung.

      Ein neuerliches »Den Anfang!« ließ mich zusammenzucken. Was auch immer hier los war, bestimmt tat ich lieber, was diese mysteriöse Gespensterstimme verlangte.

       … die Dunkelheit seines Charakters zu verbergen. Esmeralda wusste genau, dass Vinzenz eine Blamage für die Familie Brandfair war. Für etwas Ruhm und Ehre tat er alles, um von seiner niederen Herkunft abzulenken und den neiderfüllten Hass auf seinen wohlgeborenen Bruder zu besänftigen. Ganz egal von welch abgrundtiefer Niederträchtigkeit. Dennoch schaffte er es, immer wieder den perfekten Gentleman zu mimen. So wie jetzt. Er lehnte sich nach vorne, fasste ihre Maske, bedachte sie mit einem dunklen Lächeln und zog sie schließlich sanft von ihren Augen. Esmeralda war wie gelähmt. Ein Teil in ihr wollte wegrennen, der andere bleiben. Phil. Phil. Phil. Aber es half nichts. Vinzenz. Vinzenz. Vinzenz. Seine Lippen …

      Klack. Im Kassenraum war irgendetwas mit einem lauten Rumpeln umgekippt. Ich bekam kaum noch Luft und war mir sicher, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis ich tatsächlich auf den Boden kotzen musste, so benommen fühlte ich mich. Das Geräusch war ertönt, als die Uhr umgesprungen war.

      Zwanzig Minuten vor Mitternacht.

      Mit zitternden Fingern griff ich nach dem Buch und wollte gerade dazu ansetzen, die nächsten Sätze vorzulesen, als auf einmal das Licht der Handylampe ausfiel, mir der Roman entglitt, über den Tisch rutschte und direkt vor Leonas Füßen landete. Mit einem lauten Aufschrei sprang sie in die Höhe und rannte davon, um sich zusammengekauert in einer dunklen Ecke zu verstecken. Fassungslos starrte ich auf das Buch am Boden, das sich mit einem unwahrscheinlichen Tempo wie ein Kreisel drehte. Es sah aus, als würden kleine Blitze zwischen den Seiten hervorschießen und die Dunkelheit durchbrechen. Alles knisterte, raschelte und knackte wie ein Lagerfeuer.

      Ich brauchte einen Moment, um meinen ganzen Mut zu sammeln, bevor ich darauf zustürmte, es mit beiden Händen fasste und entschlossen in den Nebenraum rannte. Dort schleuderte ich es mit voller Wucht hinter den Kassentisch. Ich konnte Papier reißen hören, aber das war mir völlig egal. Auf keinen Fall wollte ich diese Geschichte auch nur eine Sekunde länger in meiner Nähe