Das Schicksal der Lilian H.. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718513
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seine Verlobte, lag neben ihm, zusammengerollt wie ein Kind, die dunklen Lokken zerzaust, die geschlossenen Augen verquollen von vergossenen Tränen. Er betrachtete sie liebevoll.

      Die Eröffnung, daß aus der erhofften Berufung nach Kiel und damit aus der nun schon so lange angestrebten Heirat vorerst nichts werden würde, hatte sie schwer getroffen. Sie war außer sich geraten und hatte ihm wilde Vorwürfe gemacht. Wie üblich hatten sie sich heftig gezankt, und wie üblich hatten sie sich genauso heftig wieder versöhnt.

      Jetzt schwebte ein kleines Lächeln um ihre Lippen. Es widerstrebte ihm, sie zu wecken und in die widrige Wirklichkeit zurückzurufen. Er überlegte, ob er nicht leise aufstehen und sie weiter schlafen lassen sollte. Seine Mutter sprach zwar nicht darüber, aber sie wußte sicher längst, daß er sie manchmal mit zu sich herauf nahm. Er war sicher, daß sie der Situation gewachsen sein würde. Vielleicht würde es sogar ganz gut sein, wenn die beiden Frauen sich einmal in der Früh, und ohne daß er dabei war, begegneten. Möglicherweise würde sich ihr Verhältnis dadurch entspannen. Vorsichtig schwang er sich auf die Bettkante.

      Aber schon wurde Eva wach oder zumindest halbwach. »Was ist?« murmelte sie.

      Er beugte sich zu ihr hinunter. »Gar nichts«, flüsterte er ihr zu, »schlaf ruhig weiter.«

      »Wie spät ist es?«

      »Noch sehr früh«, raunte er ihr ins Ohr und entzog sich behutsam ihrem Griff.

      Aber jetzt schlug sie die blauen kindlichen Augen auf, klappte die Lider ein paarmal auf und zu und fragte:

      »Warum stehst du da?«

      »Ich muß fort, Eva.« Er gab ihr einen raschen Kuß. »Sei mir nicht böse, ich bin eben angerufen worden.«

      Sie setzte sich kerzengerade im Bett auf und hielt die Decke vor ihre Brust gepreßt. »Und da wolltest du mich hier alleine lassen!?«

      »Ich habe es nicht über mich gebracht, dich zu wecken, Liebling.«

      »Du bist mir ja ein feiner Kavalier! Und wie hätte ich aus der Wohnung rauskommen sollen?«

      »Durch die Tür.« Während er ihr Rede und Antwort stand, war er schon dabei, sich mit wenigen, geübten Griffen anzuziehen.

      »Und dabei wäre ich prompt deiner Mutter in die Arme gelaufen!«

      »Nun reg dich bloß nicht auf«, sagte er und schlang sich seine Krawatte um den Hals, »was wäre schon dabei gewesen? Meine Mutter ist gar nicht so, wie du denkst. Ich wette, sie hätte kein Wort gesagt.«

      »Aber gedacht hätte sie sich ihren Teil!« Eva sprang mit einem Satz aus dem Bett. »Dreh dich gefälligst um, wenn ich mich anziehe!«

      Er wandte sich dem Spiegel zu und stellte im schwachen Licht der Nachttischlampe fest, daß sein Bart sehr nützlich war, wenn er, wie heute, aus dem Schlaf gerissen wurde und keine Gelegenheit mehr hatte, sich zu rasieren.

      »Es ist peinlich genug für mich«, schimpfte Eva, »wenn ich mich nachts auf Zehenspitzen mit dir hier heraufschleichen muß! Daß du mich dann aber noch so einer Situation aussetzen magst, ist wirklich unglaublich! Es ist dir also ganz egal, was deine Mutter von mir hält.«

      »Sie hat dich sehr gerne.«

      »Das glaubst du doch selber nicht! Für die wäre es ein Fest, mich hier bei dir zu erwischen!« Sie zog sich ihr bunt getupftes Kleid über den Kopf.

      »Wenn du weiter so schreist«, sagte er, »ist sie bestimmt gleich da!«

      Darauf entgegnete sie nichts mehr, preßte nur noch trotzig die Lippen zusammen und warf ihm einen wütenden Blick zu.

      Er ergriff seine Bereitschaftstasche und schritt durch den Flur zur Wohnungstür. Als er die Kette abnahm, gab es ein klirrendes Geräusch.

      »Michael!« ertönte die Stimme seiner Mutter.

      Er sah Eva, die ihm dicht gefolgt war, beschwörend an und rief zurück: »Ja, Mutter!« Er näherte sich der geschlossenen Schlafzimmertür. »Mußt du schon wieder fort, Michael?«

      »Ja, Mutter.«

      »Ein Mord?«

      »Ich weiß noch nicht. Schlaf weiter.«

      Mit zwei Schritten war er wieder an der Wohnungstür, schloß sie auf und ließ Eva hinaus.

      Als sie nebeneinander die Treppe hinunterliefen, lachte Eva auf. »Deiner Mutter entgeht nichts, wie?«

      »Sie hat einen leichten Schlaf.«

      »Das hätte ich wissen sollen. Jedenfalls war es das letzte Mal, daß du mich zu dir hinaufgelockt hast.«

      Er legte den Arm um ihre Schultern und schob sie auf die Straße hinaus. Er wunderte sich, wie hell es schon draußen war. Die Laterne, unter der sein VW parkte, brannte nicht mehr. »Wenn du dir einbildest, mich zu einem Streit provozieren zu können, bist du schief gewickelt«, sagte er gutmütig, »spar dir den bis heute mittag auf.«

      Seine körperliche Nähe, die Wärme, die von ihm ausging, stimmte sie versöhnlicher. »Du meinst also, wir könnten trotzdem zum Baldeney-See?« Sie rieb ihren Kopf an seiner Schulter.

      »Ich werde mein möglichstes tun«, versprach er.

      Genau zwanzig Minuten nachdem er angerufen worden war erreichte Dr. Michael Sturm die Villa Rheinallee 127. Seine Verlobte hatte er unterwegs nahe der elterlichen Wohnung abgesetzt. Es war sechs Uhr, als er das Zimmer, in dem die tote Irene Kayser lag, betrat.

      »Ach, Sie sind es, Doktor Sturm«, sagte Kriminalinspektor Kramer, der schon einmal mit dem jungen Gerichtsmediziner zusammen gearbeitet hatte, »wahrscheinlich haben Sie sich ganz umsonst bemüht. Doktor Koblenz, der Hausarzt der Verstorbenen, ist überzeugt, daß es sich um einen Selbstmord handelt.«

      »Ich würde es uns gönnen.« Michael Sturm öffnete seine Bereitschaftstasche, holte Gummihandschuhe heraus und zog sie über. »Auf keinen Fall möchte ich Spuren verwischen. Haben Sie schon fotografiert?«

      »Ein paarmal.«

      Dr. Sturm betrachtete nachdenklich das blutdurchtränkte Bett, den Teppich, das halb unter das Bett gerutschte Heidschnuckenfell. Dann trat er näher und schob die Bettdecke einige Zentimeter zurück, um die Wunde besser betrachten zu können. Das Messer war quer durch den jetzt blutgetränkten Kaschmirschal gezogen worden und hatte eine Zickzack-Spur von Schnitten hinterlassen.

      Dr. Michael Sturm richtete sich auf. »Selbstmörder arbeiten sich nicht erst mühsam durch ihre Kleidungsstücke hindurch«, sagte er, »tut mir leid, meine Herren … es muß Mord sein.«

      Für Sekunden herrschte betroffenes Schweigen.

      Das unbekümmerte Zwitschern der Vögel, das aus dem noch taufrischen Garten durch die weit offene Terrassentür in das Sterbezimmer drang, schien mit einem Mal aufdringlich laut zu werden.

      Die Diagnose des Gerichtsmediziners hatte den Männern der Mordkommission die Weichen gestellt. Ihre letzte Hoffnung, daß Frau Kayser sich selbst getötet haben könnte, entschwand. Sie wußten, daß sie ein Wochenende voller Arbeit vor sich hatten.

      Kriminalinspektor Kramer unterdrückte einen Seufzer.

      Nur der alte Hausarzt war noch nicht bereit, aufzugeben.

      »Mord?« wiederholte Dr. Koblenz. »Wie können Sie dessen so sicher sein, Kollege?«

      »Zugegeben, ich habe mich nicht ganz sachlich ausgedrückt.« Dr. Michael Sturm richtete sich auf und lächelte entschuldigend, aber der Ausdruck seiner klaren blauen Augen blieb ernst, und sein junges bärtiges Gesicht wirkte fast verzerrt vor Anspannung. »Tötung von fremder Hand hätte ich besser sagen sollen.«

      Er beugte sich wieder über die Tote, schob den blutgetränkten Kaschmirschal beiseite und stellte fest, daß auch jene oberflächlichen Probeschnitte fehlten, die, wie er gelernt hatte, für einen Selbstmord charakteristisch sind. »Ein Suizid ist ausgeschlossen«, erklärte er mit fester Stimme.

      Er