Das Schicksal der Lilian H.. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718513
Скачать книгу
jetzt einen kleinen Rückfall, aber das ist doch kein Grund, den Mut zu verlieren. Wir müssen tapfer sein, ja?«

      Irene Kayser hob mühsam die Hand und griff nach Schwester Elises Arm. »Sie sind so gut zu mir!« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Sie müssen mich ja für eine Hexe halten.«

      »Aber nein, bestimmt nicht.« Schwester Elise wischte ihr die Lotion mit einem feuchten Wattebällchen aus dem Gesicht.

      »Ich arbeite gerne hier … wirklich.«

      »Es wird zuviel für Sie. Sie sind noch so jung und … wissen Sie was? Sie werfen heute abend einmal alles hin und gehen ins Kino.«

      »Gnädige Frau, das geht doch nicht! Sie wären ganz allein im Haus und …«

      »Ich bitte Sie!« Irene Kayser lachte fast. »Was habe ich schon zu befürchten? Nichts. Ich habe nichts mehr zu gewinnen und nichts mehr zu verlieren. Also gehen Sie schon. Tun Sie mir den Gefallen!«

      »Es läuft zur Zeit gar nichts Vernünftiges.« Schwester Elise tupfte die Spuren von Feuchtigkeit mit einem weichen, sauberen Handtuch ab. »Nur Sex-Filme und so weiter.«

      »Dann gehen Sie eben in einen Sex-Film, ja, es ist mein voller Ernst.« Die Patientin geriet geradezu in Eifer. »Gerade das ist es, was Sie brauchen. Sie sind ein bißchen zu prüde, Schwester! Glauben Sie mir, wenn Sie weiter so brav und zurückhaltend bleiben, kriegen Sie nie einen Mann.« Schwester Elises Gesicht verschloß sich. »Vorläufig habe ich auch noch nicht vor zu heiraten.«

      Irene Kayser ließ sich nicht abspeisen. »Das sagt man so dahin, und mit einem Mal ist es zu spät. Je mehr ich es mir überlege, ein Sex-Film ist genau das Richtige für Sie. Das ist ein Befehl, Schwester. Ich schicke Sie ja auch aus Egoismus, damit Sie mir endlich wieder mal was zu erzählen haben.« Schwester Elise war schon fast überzeugt. »Und wie soll das mit dem Abendbrot werden?«

      »Unwichtig. Ich esse heute eben früher. Sie machen mich zur Nacht fertig, geben mir meine Tabletten, und schon sind Sie endlich mal von mir und dieser Krankenstubenatmosphäre befreit. Keine Widerrede. So wird’s gemacht.«

      3

      Lilian Horn lag, nur mit einem weißen Bademantel bekleidet, einen Turban um das blonde Haar drapiert, lang ausgestreckt auf ihrem Bett und ließ die Schönheitsmaske, die sie sich aufgelegt hatte, wirken. Sie hatte zwischen den wohlgeformten Zehen Watteröllchen stecken, damit der frische Lack nicht beschädigt wurde, und hielt die manikürten und lackierten Finger gespreizt.

      Die Balkontür stand weit offen, und ein leichter Luftzug strich durch das große Zimmer im 9. Stock eines Gebäudes, das im Volksmund der »Sekretärinnen-Silo« genannt wurde. Tatsächlich lebten nur alleinstehende Frauen in den modernen, praktischen Einzimmer-Appartements, wenn auch nicht ausschließlich Sekretärinnen.

      Lilian Horn versuchte sich ganz zu entspannen und an nichts zu denken, denn sie wußte, daß das die Wirkung ihrer Maske unterstützen würde. Aber ohne daß sie es wollte, ging ihr das Gespräch mit ihrem Chef durch den Kopf.

      Ob er es wohl ernst meinte? Sie war nicht ein bißchen in ihn verliebt, aber das hätte sie wohl kaum daran gehindert, seinen Antrag anzunehmen. Wenn er frei gewesen wäre. Nach einer mißglückten Ehe, die als Liebesheirat begonnen hatte, war sie, so glaubte sie wenigstens, Männern gegenüber sehr sachlich geworden. Kurt Kayser war nicht uneben, kein schöner Mann und auch nicht mehr jung, aber erfolgreich und intelligent. Er konnte einer Frau allerhand bieten: gesellschaftliche Stellung, sorgloses Leben, Schmuck, Pelze, Wochenenden auf Sylt, ein schönes Haus – er hätte ihr das geben können, wenn er unverheiratet gewesen wäre. Aber das eben war er nicht. Er war an eine Frau gefesselt, die nie mehr gesund werden würde, aber trotzdem noch gut und gerne zwanzig Jahre leben konnte. Also hatte es überhaupt keinen Zweck, einen Gedanken an Kurt Kayser zu verschwenden. Er fiel als ernsthafter Bewerber vollkommen flach.

      Lilian Horn stützte sich auf die Ellbogen, richtete sich halb auf und warf einen Blick auf das Zifferblatt ihres winzigen Weckers. Die zehn Minuten, die die Maske wirken sollte, waren um. Sie schwang die nackten Beine vom Bett, löste die Wattebänder zwischen den Zehen, stand auf und warf sie in den Papierkorb.

      Das Bad war ganz in rotem und schwarzem Plexiglas gehalten – eine Sonderanfertigung – und hatte keine Fenster, sondern nur Leuchtröhren und einen Luftabzug. Lilian Horn spülte sich die hart gewordene Maske mit lauwarmem Wasser ab und cremte sich ein, erst das Gesicht, dann den ganzen Körper.

      Nackt betrachtete sie sich im Spiegel. Ihre Beine waren lang, der kleine, feste Busen saß hoch, es gab kein Pfund zu viel um die Hüften, Magen und Bauch bildeten von der Seite gesehen eine wundervolle Linie, und ihr schmales Gesicht mit den hochstehenden Wangenknochen unter den bernsteingelben Augen zeigte keine einzige Falte. Man hätte sie für achtzehn halten können, wenn da nicht eine gewisse Härte gewesen wäre, die von überwundenen Enttäuschungen sprach, eine Erfahrung im Blick, die kein junges Mädchen haben konnte.

      Wenn sie lachte, wirkte sie jünger. Sie lachte ihrem Spiegelbild zu und nahm den Turban ab. Sie prüfte die Wurzeln ihres frisch getönten, hellblonden Haares, fand keine Spur von Dunkelheit, ließ die Strähnen befriedigt fallen und kämmte sich.

      Sie parfümierte sich und schlüpfte in einen kleinen weißen Seidenslip, zog Perlonstrümpfe an und streifte Strumpfbänder über.

      Anschließend besprühte sie ihre sorgfältig ausrasierten Achselhöhlen mit einem Desodorant und legte dann so peinlich genau Make up auf, daß ihr Gesicht, als sie fertig war, einem Kunstwerk glich.

      Nachdem sie im Bad Ordnung gemacht hatte, ging sie ins Zimmer zurück, holte ein ärmelloses Kleid aus Goldbrokat aus dem Schrank, stieg von oben hinein und zurrte den Reißverschluß im Rücken zu. Sie wählte goldene Pumps, packte ihr goldenes Abendtäschchen, nahm eine helle Breitschwanzstola vom Bügel und warf sie über einen Sessel. Es war zwanzig Minuten nach acht.

      Lilian Horn ging in die Küche und öffnete den Eisschrank. Sie fand eine noch unangebrochene Flasche Wodka und nahm sie heraus. Mit einem Küchenmesser trennte sie die Aluminiumkapsel auf und löste sie vom Verschluß.

      Sie stieß einen leisen Schrei aus und zog die Hand zurück. Sie hatte sich in Daumen und Zeigefinger der rechten Hand geschnitten.

      Sofort steckte sie beide Finger in den Mund. Sie lief ins Bad, drehte den Kaltwasserhahn über dem Becken auf und hielt die blutenden Finger unter den Strahl. Aus dem Toilettenschrank über dem Becken holte sie mit der linken Hand einen Alaunstein, mit dem sie die Wunde bearbeitete.

      Nach wenigen Minuten hörte die Blutung auf. Die Schnittwunden waren blaß und kaum noch zu erkennen.

      Lilian Horn spülte das Becken aus, legte den Alaunstein an seinen Platz und kehrte in die Küche zurück. Sie warf die Aluminiumhülle in den Müllschlucker, schenkte sich drei Finger hoch Wodka in ein Glas und leerte es in einem Zug. Die Haustürklingel schrillte dreimal hintereinander in gleichmäßigen Abständen. Lilian Horn ergriff ihre Stola, ihre Tasche, ihre Handschuhe und verließ die Wohnung. Sie schloß die Tür ab und fuhr mit dem Lift nach unten.

      In der Halle erwartete sie Herr Kerst, Leiter der Agentur »Hostessendienst GmbH«, ein unauffälliger mittelalterlicher Mann mit sandfarbenem Haar, einem korrekten dunkelgrauen Anzug und silberner Krawatte. »Pünktlich wie immer«, sagte er, »sehr schön.« Er öffnete ihr die Tür und ließ sie vor sich auf die Straße treten.

      Wenige Schritte vom Portal entfernt parkte ein dunkelblauer Mercedes 300. Noch war es hell draußen, trotzdem waren schon einige Fenster im Appartement-Hochhaus erleuchtet.

      Herr Kerst legte beschützend eine Hand unter Lilian Horns Ellenbogen. »Vielleicht sollte ich Sie das nächste Mal nicht von hier abholen, Lilian«, schlug er vor.

      »Warum denn nicht? Für mich ist es so am bequemsten.«

      »Man beobachtet Sie.«

      »Wer?«

      Herr Kerst machte eine Kopfbewegung in Richtung auf das Haus hinter ihnen. »Ihre Nachbarinnen!«

      »Ach