Das Schicksal der Lilian H.. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718513
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Leiche der Irene Kayser. Sie trug noch immer das blutdurchtränkte Nachthemd, in dem sie aufgefunden worden war, und um den Hals geschlungen den braunrot verfärbten Kaschmirschal. Die grausam klaffende Wunde hob sich kraß von dem blutleeren Gesicht ab. Auch Hände und Füße waren sehr weiß. Die dunklen Augen starrten ins Leere.

      Dennoch hatte ihr Anblick für die beiden jungen Ärzte, die sich mit ihr in dem nüchternen, hellgrün gekachelten Raum befanden, nichts Unheimliches an sich, nichts Unheimliches, doch auch nichts Menschliches. Dr. Michael Sturm und Dr. Jo Kulicke hatten es sich längst abgewöhnt, in einer Leiche etwas anderes zu sehen als ein Stück totes Fleisch, einen Kadaver. Sie ließen sich weder von den Verbrechen schrecken, denen die meisten, die hier im Obduktionsraum landeten, zum Opfer gefallen waren, noch von Mitleid über das gewaltsame Ende eines Lebens überwältigen. Anders wäre ihr harter Beruf nicht zu ertragen gewesen.

      Dr. Kulicke hatte die Tote von allen Seiten umtanzt und Blitzaufnahmen von ihr geschossen; jetzt gab es für ihn nichts mehr zu tun. »Verdammt«, fluchte er, »wenn der Alte nicht bald kommt, fangen wir ohne ihn an.« Er warf einen ausgebrannten Blitzlichtwürfel achtlos in den Abfalleimer. »Ich habe keine Lust, mir den ganzen Samstag versauen zu lassen.«

      Die breite Sonnenbahn, die durch eines der vergitterten Fenster in den Raum fiel, ließ sein rotes Haar aufleuchten. »Immer mit der Ruhe.« Dr. Michael Sturm schüttelte den Ärmel seines hochgeschlossenen Kittels zurück und sah auf seine Armbanduhr. »Geben wir ihm noch ein bißchen Zeit. Als Leiter des Instituts muß er spätestens drei Stunden nachdem er die Nachricht vom Mord erhalten hat zurück sein, und ich wette, er schafft es noch. Bisher hat er es immer geschafft.«

      »Mir wäre es lieber, er kreuzte erst gar nicht dauernd in der Weltgeschichte herum«, beschwerte sich Dr. Kulicke, »immer läßt er uns die Drecksarbeit machen. Und wenn er schon mal zu Hause ist, schreibt er bestimmt an einem seiner Bücher, anstatt –«

      Dr. Sturm fiel ihm ins Wort. »Du wirst lachen, aber mir ist das sogar lieber so. Ich arbeite gern selbständig.«

      »Na wunderbar. Du arbeitest selbständig, und der Alte erntet die Lorbeeren und streicht das Geld ein. Eine erstklassige Einteilung. Soll ich dir mal was sagen, Michael? Du bist ein kompletter Idiot. Wenn du es dem Alten so leicht machst, wird er dich nie weglassen. Ich dachte, der Reinfall mit Kiel wäre dir eine Lehre gewesen.«

      Dr. Sturm zupfte an seinem dunkelblonden Bart. »Es ist gar nicht sicher, daß der Alte was damit zu tun hatte.«

      »Junge, Junge, du bist ein naives Gemüt! Was hat übrigens deine Eva dazu gesagt? Sie war wohl schwer enttäuscht, was?«

      Ehe Dr. Sturm noch eine Antwort geben konnte, öffnete der Leichendiener die Tür. »Der Herr Professor«, verkündete er ehrfurchtsvoll.

      Dr. Kulicke zog eine Grimasse, glättete sein Gesicht aber sogleich, als Professor Faber eintrat, gefolgt von dem Leichendiener, der die Tür hinter ihm schloß und ihm dann in seinen Kittel half.

      »Guten Morgen, meine Herren, guten Morgen«, grüßte Professor Faber und umfaßte mit einem einzigen Blick seiner kühlen grauen Augen die beiden jungen Ärzte und die Leiche auf dem Obduktionstisch, »entschuldigen Sie, wenn ich mich verspätet haben sollte, aber ich mußte den Hubschrauber nehmen.« Er unterbrach sich, trat einen Schritt näher an die Leiche heran und fragte:

      »Wer von Ihnen war am Tatort?«

      Michael Sturm meldete sich.

      »So, so. Dann seien Sie bitte so freundlich und erstatten Sie mir Bericht!«

      Dr. Sturm tat es. Er gab alles wieder, was er wußte, und sprach auch seine Diagnose aus: Tod von fremder Hand. Er begründete sie mit dem zerschnittenen Kaschmirschal, den fehlenden Probeschnitten und den fehlenden Verletzungen an den Händen der Toten.

      Währenddessen untersuchte Professor Faber selber die Leiche.

      »Ausgezeichnet«, lobte er, »sehr gut, lieber Kollege, exakt beobachtet. Spuren auf der Tatwaffe?«

      »Leider nein. Die Rasierklinge ist völlig blutverschmiert und zeigt keinerlei Abdrücke. Es ist nicht einmal ersichtlich, ob sie mit oder ohne Handschuhe benutzt worden ist. Zudem ein ganz gewöhnliches Fabrikat.«

      Professor Faber ließ den steifen Arm der Verstorbenen fallen. »Andere Spuren?«

      »Ich habe zwei lange Haare sichergestellt, die sich an der rechten Hand der Toten befanden. Sie stammen aber zweifelsfrei von einem Heidschnuckenfell, das als Bettvorleger diente.«

      »Schade. Na ja, da werden sich die Herren von der Polizei eben ausnahmsweise ein wenig anstrengen müssen. Sie neigen sowieso dazu, nicht nur die Diagnose, sondern auch die Beibringung von Beweismaterial uns Gerichtsmedizinern zu überlassen.«

      Die beiden Assistenten lachten pflichtschuldigst über diese Bemerkung ihres Chefs.

      »Na, dann wollen wir mal!« Professor Faber löste behutsam das Halstuch der Toten.

      Dr. Kulicke fotografierte das blutdurchtränkte Halstuch und auch den bloßen Hals.

      Dr. Sturm bemühte sich, zusammen mit dem Leichendiener, die Verstorbene zu entkleiden, ein schwieriges Unterfangen, da die Totenstarre inzwischen voll eingetreten war.

      Dr. Kulicke nahm die nackte Leiche von allen Seiten auf. Dann wischte der Leichendiener das Blut ab.

      Dr. Sturm reichte dem Professor das große Skalpell, und er öffnete mit sicherem Schnitt den Brustkorb. Antiseptische Maßnahmen wurden nicht angewandt. Die Tote hatte keine Infektion mehr zu fürchten, und an einer frischen Leiche pflegte Professor Faber nicht einmal mit Gummihandschuhen zu arbeiten.

      Als er die Hauptschlagader durchtrennte, spritzte ein Blutstrahl auf, der aber sofort wieder versiegte.

      Professor Faber nahm das Herz mit bloßen Händen heraus und stellte fest: »Keine Embolie. Die Tote ist einwandfrei verblutet.«

      Dr. Sturm setzte mit dem elektrischen Bohrer vier Löcher in die Schädeldecke. Er legte sie so an, daß die Verletzungen später unter dem Haar verschwinden würden. Mit der Säge verband er die vier Löcher miteinander und hob das vierekkige Stück der Schädeldecke ab.

      Professor Faber nahm sich ein anderes feineres Skalpell und durchschnitt die Hirnhaut. Das Gehirn lag jetzt gut sichtbar vor ihm.

      »Interessant«, sagte er, »nun sehen Sie sich das an!«

      Er trat einen Schritt zurück, und die beiden Assistenten betrachteten das freiliegende Hirn.

      »Auffallende rötliche Herde in der Umgebung der Hirnvetrikel«, konstatierte Dr. Sturm.

      »Genau wie im Schulbuch«, stimmte Dr. Kulicke zu, »Symptome für eine multiple Sklerose.«

      »Schneiden Sie eine Probe heraus«, ordnete Professor Faber an, »und untersuchen Sie sie später unter dem Mikroskop. Sie werden feststellen: Markscheidenzerfall bei meist erhaltenen Achsenzylindern und Ganglienzellen.«

      Dr. Sturm nahm ein Stück des erkrankten Gehirns und legte es auf eine Porzellanschale. Dann fügte er, ohne die Hirnhaut zu vernähen, die Schädeldecke wieder zusammen und befestigte die Haut darüber mit großen Stichen. Inzwischen hatte Professor Faber schon mit einem langen, senkrecht durchgeführten Schnitt den Leib der Toten geöffnet. Er nahm den Magen heraus und schnitt ihn auf. Er war leer. Der Inhalt – rote Beete waren deutlich sichtbar – war schon ein Stück in den Dünndarm weitergewandert.

      »Der Tod ist drei bis vier Stunden nach der letzten Mahlzeit eingetreten«, stellte Professor Faber fest.

      »Ich war um sechs Uhr bei der Leiche«, berichtete Michael Sturm, »nach Beschaffenheit und Intensität der Totenflekken wie auch Grad und Ausbildung der Totenstarre bin ich zu dem Ergebnis gekommen, daß sie acht bis neun Stunden zuvor verstorben sein mußte.«

      »Falls die Tote gegen sechs Uhr zu Abend gegessen hat«, sagte Professor Faber, »paßt alles großartig zusammen. Dann ist sie zwischen neun und zehn Uhr ermordet worden.«

      »Und wenn nicht?«