Das Schicksal der Lilian H.. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718513
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will dir keine Vorwürfe machen, sondern nur die Atmosphäre zwischen uns bereinigen, damit wir wie vernünftige Menschen miteinander umgehen können. Du wohnst also jetzt nicht mehr auf deinem Dorf?«

      »Nein. In München. Ich bin Einkäufer eines Warenhauskonzerns geworden. Verheiratet bin ich inzwischen auch. Meine Frau erwartet ein Baby.«

      »Dann kann ich dir also nur noch gratulieren!« Sie strahlte zu ihm auf, während ihr war, als zöge sich ihr Herz schmerzhaft zusammen.

      4

      Schwester Elise kam zwanzig nach zehn in die Kaysersche Villa zurück. Sie ging sofort auf ihr Zimmer, den ehemaligen kleinen Salon, der direkt neben dem zur Krankenstube degradierten Eßraum lag.

      Leise öffnete sie die Tür einen Spalt breit und wunderte sich, daß drinnen nicht wie sonst das Nachttischlämpchen brannte. Aber da die Patientin, die gewöhnlich beim leisesten Geräusch erwachte, sie nicht rief, nahm sie an, daß sie glücklicherweise fest eingeschlafen war. Lautlos zog Schwester Elise sich im Dunkeln aus, huschte in die Gästetoilette, wo sie sich wusch und für die Nacht vorbereitete. Dann legte sie sich auf ihre Couch und schlief kurz darauf ein.

      Sie erwachte mit dem Gefühl, daß etwas Ungewöhnliches geschehen war. Sie lauschte in die Dunkelheit. Kein Laut. Die Vorhänge waren zugezogen, aber durch die Spalten drang das schwache Licht der Morgendämmerung.

      Jetzt begriff Schwester Elise, was sie so irritierte: die Nacht war vergangen, ohne daß Frau Kayser sie ein einziges Mal geweckt hatte. Sie warf einen Blick auf das Leuchtzifferblatt ihres großen, stabilen Weckers: Es war genau zwei Minuten vor fünf. Sie sprang auf, schlüpfte in ihre Pantoffeln und ihren Morgenrock und eilte zur Verbindungstür, die sie, wie immer, halb offen gelassen hatte. Sie stieß sie auf.

      Die ersten Sonnenstrahlen erhellten den großen Raum; die Tür zur Terrasse hin stand auf. Die Patientin lag in einer unnatürlichen Haltung da. Der rechte Arm hing aus dem Bett und die Hand berührte das Heidschnuckenfell auf dem Boden.

      Schwester Elise erschrak. »Frau Kayser«, rief sie, »was ist passiert?« Ihre Stimme schallte sehr laut durch das stille, einsame Haus.

      Sie lief näher, und erst jetzt sah sie, daß alles voller Blut war: das Nachthemd, der Teppich, die Bettdecke, alles war von dunkelbraunem, bereits geronnenem Blut durchtränkt.

      Mit äußerster Anstrengung überwand Schwester Elise ihren Ekel und beugte sich über das Bett. Irene Kaysers Hals war mit einem grauenhaften Schnitt durchtrennt. Ihr Kopf war in den Nacken gesunken, die offenen Augen blickten starr zur Decke.

      Sie hörte einen gellenden Schrei, und es war ihr, als käme er aus der grauenhaft klaffenden Wunde der Toten wie aus einem zweiten Mund. Es dauerte Sekunden, bis sie begriff, daß sie es selber war, die schrie, immer noch schrie.

      Sie drehte sich panikartig um, raste in die Diele hinaus und dann in das Herrenzimmer, auf dessen Schreibtisch ein Telefon stand. Sie kam gar nicht auf den Gedanken, den Apparat auf dem Nachttisch der Toten zu benutzen, sie hätte es nicht länger dort ausgehalten.

      Ohne zu überlegen wählte sie die Nummer der Polizei: »Ein Mord … meine Patientin, Frau Kayser … die Kehle durchschnitten, alles voll Blut«, stammelte sie, »ja, ja, ich rufe aus dem Haus an … Rheinallee 127 … schnell, bitte, kommen Sie schnell!«

      Sie legte den Hörer auf und ließ sich in den Sessel sinken, versuchte, Fassung zu gewinnen, ihre Gedanken zu ordnen.

      Immer noch zitternd rief sie den Hausarzt, Dr. Koblenz, an. »Bitte, kommen Sie sofort … Frau Kayser ist tot. Ich habe schon die Polizei angerufen.«

      »Das hätten Sie nicht tun sollen«, sagte der Arzt mit einer Stimme, die vor Verschlafenheit knarrte.

      »Aber … alles ist voll Blut … sie ist … ermordet worden!«

      »Das können Sie nicht beurteilen, Schwester. Werden Sie um Himmels willen nicht hysterisch. Bleiben Sie ganz ruhig und rühren Sie nichts an. Ich bin gleich da.«

      Aber noch vor Dr. Koblenz war die Mordkommission am Tatort, ein ganzer Pulk von Männern. Schwester Elise hörte ihre Stimmen, das Quietschen der Bremsen und das Zuschlagen der Autotüren auf der Straße, und sie riß die Haustür auf, noch bevor es klingelte.

      Ein langer, magerer junger Mann stürmte mit umgehängter Kamera als erster herein und schrie: »Wo ist es? Wo?« Schwester Elise wies auf die offene Türe an der gegenüberliegenden Seite der Diele.

      Der junge Mann rannte weiter.

      Ein untersetzter Mann mit schief sitzender Krawatte, einem verbeulten Hut auf dem Kopf und Bartstoppeln am Kinn trat zu Schwester Elise. »Ich bin Kriminalinspektor Kramer. Sie haben die Polizei verständigt, ja?«

      Schwester Elise konnte nur nicken, sie war ihrer Stimme nicht mächtig.

      »Nun beruhigen Sie sich erst einmal«, sagte der Inspektor, »wir werden uns den Tatort ansehen. Dahinten? Danke, Sie brauchen nicht mitzukommen. Vielleicht ziehen Sie sich inzwischen an. Und kochen Sie uns doch bitte eine große Kanne Kaffee, die können wir alle brauchen.«

      Er zog mit seinen Männern weiter, Schwester Elise blieb einfach stehen, unfähig, seinen gutgemeinten Anordnungen nachzukommen.

      Sie hörte ihn im Sterbezimmer schimpfen: »Sie! Also ausgerechnet Sie! Wer hat Sie denn hereingelassen?! Ja, ich verstehe schon, Polizeifunk abgehört … aber jetzt verschwinden Sie gefälligst, oder ich muß Ihre verdammte Kamera konfiszieren!«

      Der dürre junge Mann kehrte zurück. Er sah durchaus nicht bekümmert aus, sondern grinste selbstzufrieden.

      »Immer diese Reporter!« schimpfte drinnen Inspektor Kramer.

      Der Zeitungsmann gab Dr. Koblenz die Haustür in die Hand.

      Der Arzt warf Schwester Elise einen tadelnden Blick zu. »Da haben Sie was Schönes angerichtet!« Er stelzte durch die Diele.

      Die Männer von der Mordkommission hielten sich, um nur ja keine Spuren zu verwischen, in respektvollem Abstand von dem Bett entfernt.

      »Guten Morgen!« Dr. Koblenz lüftete seinen Hut und wollte ihn auf einen der Sessel werfen.

      Kriminalinspektor Kramer gab ihn ihm wieder. »Lieber nicht, Sie wissen ja, das könnte Verwirrung stiften!«

      Dr. Koblenz setzte den Hut wieder auf. »Ach ja, richtig«, sagte er zerstreut, »meine Herren, ich bedauere, daß man Sie alarmiert hat. Ganz sicher handelt es sich hier nicht um ein Verbrechen.«

      »Ihr Wort in Gottes Ohr, Herr Doktor«, sagte der Mann von der Spurensicherung, »sie ahnen nicht, wie wir so etwas lieben. Ausgerechnet am Wochenende.«

      »Frau Kayser ist … vielmehr … sie war meine Patientin. Ein sehr schwerer Fall. Sie hat des öfteren Selbstmordabsichten geäußert«, berichtete der Arzt, »wir mußten stets alle Tabletten aus ihrer Reichweite halten. Ich bin ganz sicher, daß sie …« Er räusperte sich. »Diesmal Ernst gemacht hat. Ich bedaure sehr, daß ich es nicht verhindern konnte.« »An was für einer Krankheit litt sie denn?« fragte Kriminalinspektor Kramer.

      »An multipler Sklerose.«

      Die Männer der Mordkommission verstanden.

      »Sehr schmerzhaft«, fügte Dr. Koblenz überflüssigerweise hinzu, »unheilbar.«

      »Die Krankheit wirkt sich doch als Lähmung aus«, sagte der Kriminalinspektor nachdenklich, »und Sie meinen, daß sie die Kraft gehabt hätte, sich selber den Hals durchzuschneiden?«

      »Doch, doch. Die Lähmung tritt nicht gleichmäßig auf. Sie erfolgt in Schüben.«

      Dr. Koblenz trat an das blutdurchtränkte Bett, stolperte über die Kante des Heidschnuckenfells und beförderte es mit einem nervösen Fußtritt unter das Bett.

      5

      Dr. Michael Sturm tastete sofort nach dem Hörer, als das Telefon schrillte, nahm ihn ab, lauschte kurz und sagte: »Schon