Simon kehrt nun nach Berlin zurück, dort heiratet er 1931 Marta Martinu, die später zum jüdischen Glauben konvertiert und in der Folge den Vornamen Miriam trägt. Er arbeitet als Geschäftsführer im »Zentral-Hotel« Unter den Linden und im »Café Trautenau«, Nikolsburger Str. 1, das sein Bruder Leopold, der Konzertmeister, besitzt.
Ein Foto aus dem Familienalbum. Simon Leiserowitsch sitzt ganz rechts.
1933 wird Leiserowitsch noch einmal als Fußballer aktiv, genau am 7. Mai, im jüdischen Sportverein Bar Kochba-Hakoah Berlin, der gegen den Verein ehemaliger Schüler (VES) Berlin antritt, der sechs frühere Tennis-Borussia-Akteure aufbietet. Bei seinem letzten Auftritt auf einem deutschen Fußballfeld erzielt Simon Leiserowitsch zwei Tore. Noch im selben Jahr wandert er nach Palästina aus. Dort arbeitet der Emigrant als Trainer von Makkabi Tel Aviv und als Jugendbetreuer bei Hapoel Tel Aviv. Ein Foto aus jener Zeit zeigt ihn, wie er vor dicht gedrängten Rängen und unter Palmen in kurzen Hosen und Sporthemd eine Mannschaft junger Israelis aufs Feld führt. Aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse hat Leiserowitsch keine großen beruflichen Perspektiven, er findet Beschäftigung als Lagerarbeiter, mehr ist nicht bekannt. Nach dem Tod seiner Ehefrau Miriam im Jahr 1959 wohnt er bei einem Neffen. Simon Leiserowitsch stirbt am 11. November 1962 in Tel Aviv.
In Deutschland zurückgeblieben sind Leiserowitschs Vater, die vier Geschwister, zwei Ex-Frauen, die Mutter seines ersten Sohnes und zwei weitere Söhne. Waleska Schulmann, die zweite Gattin, zieht sich mit Sohn Erich Leiserowitsch in den kleinen sächsischen Ort Stenz bei Königsbrück zurück, wo sie eine Gärtnerei besitzt. Der junge Erich besucht für anderthalb Jahre die Jüdische Reform-Gemeinde-Schule in Berlin und wohnt bei Onkel Fritz Leiserowitsch, der für ihn zur Vaterfigur wird. Über Frankreich, Spanien und Portugal entkommen Mutter Waleska und Sohn Erich noch 1941 auf einem US-Frachter. Geschwister von Waleska, die in den USA leben, haben die Flucht ermöglicht. Beide amerikanisieren ihre Namen; die Mutter nennt sich nun Valesca Leiseroff, der Sohn Eric Leiseroff.
Eric Leiseroff tritt nach nur dreieinhalb Jahren Aufenthalt in den Vereinigten Staaten der US-Army bei: »Es war für mich eine große Genugtuung, als junger Mann, der gerade 19 Jahre alt geworden war, nach Deutschland zurückzukehren und gegen die Nazis zu kämpfen.« Seine Lebensgeschichte hat er für das Buch »Liberation Day« erzählt.
»Grauenhafte Tage«
Der Corporal Leiseroff des 353rd Infantry Regiment der 89th Infantry Division der US-Army beginnt, in Deutschland nach den Angehörigen zu forschen. »Ich wurde in diesen Tagen bitter enttäuscht. Ich forschte nach meiner Familie und damit meine ich nicht Cousins vierten Grades. Ich meine Onkel, Großväter und Cousins ersten Grades und zweiten Grades. Aber überall, wohin ich ging, fand ich heraus, dass sie ermordet worden waren. Es waren grauenhafte Tage. Aus meinen Briefen nach Hause an meine Mutter sprach der Hass. Sehe ich mir heute die Briefe an und begegne diesem Hass, dann sage ich mir: ›Mein Gott, das bin nicht ich.‹«
Was der 20-jährige GI erfährt: Julius Leiserowitsch, der Vater von Simon und sein eigener Großvater, ist 1943 im KZ Theresienstadt umgekommen. Fritz Leiser (er hat den ursprünglichen Familiennamen verkürzt), ehemals Außenläufer und im Spielausschuss von TeBe, ist 1943 mit seiner Frau Amalia (geb. 1909) und Tochter Baschewa (geb. 1939), genannt »Schäfchen« bzw. »Schäfelein«, in Auschwitz ermordet worden. Für Ehefrau und Kind gilt das Todesdatum 7.3.1943, Fritz wird letztmals im August 1943 auf der Krankenstation gemeldet, dann verliert sich die Spur. Bertha, die Schwester von Simon, ist im Februar 1943 in Auschwitz vergast worden. Luise, die Schwester des Berliner Fußballstars, kam 1944 im KZ Theresienstadt ums Leben.
Die Flucht hat die Familie Leiserowitsch in viele Länder der Erde geführt. Miriam F. Leiseroff, Jahrgang 1944, nicht-eheliche Tochter von Simons erstem Sohn Günter (der als so genannter Halbjude Miriams Mutter Frieda in der NS-Zeit nicht heiraten darf), heiratet in die USA, tritt 1988 zum Judentum über und trägt seit 1998 in Anbetracht ihrer jüdischen Ursprünge den Nachnamen Leiseroff. Sie hat sich angeschickt, die Fäden der Familie wieder zusammenzuführen und war uns eine ausgezeichnete Informantin. »Es gelang mir, die Überlebenden der Leisero-witsch-Familie in verschiedenen Teilen der Welt zu finden«, sagt die Kali-fornierin.
Simon und Miriam Leiserowitsch überstehen die NS-Zeit wie geschildert in Palästina bzw. Israel. Simons Bruder Leopold, der Konzertmeister, hat die NS-Zeit im Versteck in Berlin überlebt. 1951 ist er in Berlin verstorben. Seine Tochter Ruth lebt heute in Italien. Simon Leiserowitschs zweiter Sohn, Manfred, wird vom zweiten Ehemann der Mutter, einem polnischen Katholiken, verborgen und mit der Mutter nach England gebracht, wo er sich Matthews nennt. Berthold, Sohn von Luise Rodmann, geb. Leiserowitsch (den Nachnamen Radmann musste man auf NS-Weisung ablegen, da er an einen »arischen« Beruf erinnere), emigriert nach Palästina. Er lebt anfangs bei seinem Onkel Simon Leiserowitsch, was darauf schließen lässt, dass dieser noch Kontakte zu den Geschwistern nach Berlin hatte. Nach dem Tod seiner Frau verbringt Simon den Lebensabend bei ihm. Siegmund, zweiter Sohn von Simons Schwester Luise, findet als »Staatenloser« mit Ehefrau Margot 1939 Asyl in Shanghai. Von China führt der Weg 1950 über Kanada nach Kalifornien, wo Sigi Rodman, wie er sich dort nennt, 1993 in Los Angeles verstirbt. Seine Frau Margot stirbt im Alter von 96 Jahren am 14.1.2003 in Las Vegas.
Und irgendwann schließt sich dann der Kreis zu den Fußball spielenden Leiserowitsch-Brüdern aus Berlin: Eric Leiseroffs Enkelin Emma nämlich, heute zwölf Jahre jung, spielt in den USA begeistert – Fußball!
Literatur
Berliner Tennis Club Borussia (Hrsg.): 50 Jahre Tennis Borussia. Berlin 1952.
Berliner Tennis Club Borussia (Hrsg.): Clubnachrichten vom Berliner Tennis-Club »Borussia« 1924-1928.
100 Jahre Tennis Borussia Berlin. Eine Chronik. Berlin 2002
Ticher, Mike: Jews and Football in Berlin, 1890-1933
Dank für Informationen an: Staatsbibliothek Berlin, Tennis Borussia Berlin, Jan Buschbom (Berlin), Eric Leiseroff (White Plains, USA), Miriam F. Leiseroff (San Jose, USA)
Das Buch »Liberation Day« ist nachzulesen als »A German/American Story« im Internet unter www.89infdivww2.org/ohrdurf/gram.htm. Im KZ Ohrdruf bei Gotha, einem Außenlager von Buchenwald, sah Eric Leiseroff die Verbrechen der Nazis mit eigenen Augen. Ohrdruf ist auch deshalb bekannt, weil dorthin die US-Generäle Eisenhower, Patton und Brad-ley kamen. Die Bilder gingen um die Welt.
Dietrich Schulze-Marmeling
»Das waren alles gute Leute« – der FC Bayern und seine Juden
Die Fußballer des FC Bayern begannen als rebellische Minderheit des Männerturnvereins München von 1879 (MTV 1879). Bereits 1897, drei Jahre vor der Geburt des FC Bayern, hatte sich eine Fußballabteilung im MTV konstituiert, die zur stärksten Kraft im Münchener Fußball avancierte.
Zu den Gründern gehörte auch der jüdische Fußballpionier und spätere Gründer der Fußballzeitung »Kicker«, Walther Bensemann.1 Bensemann lebte damals »in jenem Viertel, wo die Schellingstraße und die Türkenstraße liegen«2, also in der Nähe der Universität und in Schwabing, der Heimat des späteren FC Bayern. Nur zehn Fußminuten von Bensemanns damaliger Unterkunft entfernt erhielt der FC Bayern 1901 an der Clemensstraße seinen ersten Platz. Der Wanderer Walther Bensemann verließ München zwar bald wieder, stand dem FC Bayern aber, wie noch gezeigt wird, später wiederholt zu Diensten.
Die Hauptleitung des MTV 1879 bezog eine