Abend war's. Der Diener servierte mir eine Platte, auf der vier Schnitzel à discrétion lagen. Die aß ich alle vier auf.
Der Hauslehrer Otto besuchte mich, gab mir die ersten Anweisungen. Zu den Mahlzeiten erschiene man stets in Schwarz.
Am nächsten Morgen führte mich Herr Otto umher. Es war alles da, was zu einem feudalen und kulturvollen Schloß gehörte. Die Bibliothek war auf fünf Räume verteilt. Herr Otto brachte mich zum Rentmeister Dannenberg, der lang und knochig war und eine mollige Frau hatte. Dann zum Privatsekretär Neugebauer. Und dann in eine Wirtschaft im Dorf, wo sich außer dem Wirt Lorke noch der Kantor Panke und eine lustige Gesellschaft zum Wellfleischessen eingefunden hatte.
Der oberste Diener, der alte Hausmeister Tietze, erkundigte sich nach meinen Wünschen, führte mich ins Gewölbe, erklärte mir, daß jener Teil des Schlosses ein ehemaliges Malteserkloster wäre, usw. Dann meldete er mich der Gräfin. Sie war eine geborene von Berlichingen, war in ihrer Statur eine Germaniafigur, aber von frauenhafter Sanftmut und stillen Wesens.
In der Treppenhalle des Schlosses fielen mir große Porträtgemälde auf. Überall hingen wundervolle Stiche und Reliefs. Neben meiner Zimmertür stand der alte Voltaire als lebensgroße Plastik. Er sah für mich aus wie der Papst, wenn er mal muß. Oder wie Seelchens Mutter.
Ich aß mit der Baroneß Berlichingen, mit der französischen Mamsell, mit dem Kinderfräulein und mit den vielen Kindern des Grafen; es waren ihrer wohl zehn. Nachmittags spielte ich mit ihnen im Schloßhof. Sie hatten einen Totenkopf in den Sand gezeichnet; in der Figur mußte man nach gewissen Regeln auf einem Bein herumhüpfen. Hinterher fuhr ich mit der Komteß Püzze und dem ältesten Jungen Brüder mit einem Ponywagen nach Mechwitz. Als uns das Bierauto begegnete, mußten wir aussteigen, um die scheuenden Ponys zu beruhigen.
Komteß Püzze zeigte mir die Bibliothek, erklärte mir das Schema der Buchführung, dabei unterhielt sie sich fließend französisch mit der sie begleitenden Mamsell. Fast alle Kinder sprachen und lasen Griechisch, auch die Gräfin las Griechisch. Alle sprachen Lateinisch. Ich war innerlich sehr beschämt durch solche Überlegenheit.
Die Möbel meines Zimmers waren reines Empire. An den Wänden hingen tonige Piranesistiche. Auf dem Schreibtisch stand eine Goethebüste. Im Grünen Korridor neben meinem Zimmer und im anschließenden Roten Gang erstreckte sich eine Flucht von Gästezimmern, von denen jedes in einem besonderen Stil echt und kostbar eingerichtet war.
Im Salon war Rauchs Büste des Generalfeldmarschalls Yorck von Wartenburg aufgestellt. Dessen Sohn hatte die Tiecksche Bibliothek erworben, die der Grundstock zu der umfassenden Bücherei war, für die ich nun arbeiten sollte. Im Arbeitszimmer stand Philologie, im Speisezimmer Deutsch, im Musikzimmer Geschichte. Der größte Bücherraum, die Remise genannt, enthielt unten im Saal Italienisch, Kunst, Naturgeschichte, Rechts- und Staatswissenschaft und Zeitschriften, oben auf der Galerie Französisch, Englisch und Yorcksche Bibliothek. Dann gab es im Korridor des zweiten Stockes noch Familiensachen. Und im Gewölbe, das gleichzeitig Billardsaal war, fand man spanische Literatur und bibliophile Seltenheiten.
Tausend Fragen hatte ich an Otto zu richten. Wann ich wem meine Aufwartung machen müßte. Wie die Situation in bezug auf Wäsche, Post, Anmeldung und Trinkgelder wäre usw. Otto war ein intelligenter Bursche, aber ein Luftikus. Er sollte bald Klein-Oels verlassen. Durch ihn wurde ich beim Pastor eingeführt, der gern und gut aß und trank. Zu den Kindern war Otto lustig nett. »Peter, putz' dir mal die Zähne. Die sehen aus wie eine Wiese.«
Vom Vater wurden die Kinder sehr streng erzogen.
Er verlangte von den Jungen,
Was sein Alter sich errungen,
Und übersah erfahrungssatt,
Das jede Zeit eigne Augen hat.
Mittags überhörte der Graf die Kinder, stellte ihnen ungewöhnliche Fragen: »Seit wann läuten die Glocken?«
»Seit der Schlacht von Lepanto.«
»Wer hat zum erstenmal Salat gegessen?« Wenn dann nicht sofort die Antwort kam: »Nebukadnezar«, dann mußte das nichtwissende Kind die Tafel verlassen oder seine Suppe im Stehen essen, oder erhielt sogar Ohrfeigen. Am ersten Mittag, da ich dort war, bekam eins der Kinder keinen Kuchen, weil es der Juno in der Lindenallee die Nase plattgeworfen hatte.
Es gab kein elektrisches Licht im Schloß, sondern Petroleumlampen, auf die man sehr aufpassen mußte, weil sie manchmal ganz plötzlich stark rußten. Wenn ich in meine Bücher vertieft war, fand ich aufsehend den Tisch und das vornehme Bett und alles mit einer feinen Rußschicht bedeckt. Eines Morgens kam Otto heim, hatte die Nacht durchbummelt, aber, um Fleiß vorzutäuschen, die Lampe brennen lassen. Die hatte die ganze Nacht über geraucht. »Nun lösch' ich sie auch nicht mehr«, sagte Otto und legte sich ins Bett. Der Diener weckte morgens einen halb erstickten Neger. Die Gräfin wußte mittags schon von dem Vorfall. Es ging im Schlosse alles sehr schnell herum.
Die Katalogisierung der Yorckschen Bibliothek war im Laufe der Jahre immer wieder unterbrochen worden. Der Katalog war unübersichtlich durch Zwischenschriften und Anhänge und durch die verschiedenen Handschriften derer, die daran gearbeitet hatten. Tausende von Bänden waren überhaupt noch nicht katalogisiert. Diese und neue Bücher, die der Graf sich erwarb, hatte ich nun bibliothekskundig einzutragen. Durch Maassen und Seebach verstand ich das ja. Graf Yorck hatte mich gleich zu Anfang einer Art Prüfung unterworfen. Unter ausgesucht höflichen Worten – er war im Leben wie in seinen Briefen – führte er mich ins Gewölbe, zog ein Buch heraus und fragte: »Wie würden Sie dies zum Beispiel katalogisieren?« Ich hatte Glück, daß ich dieses Buch nicht nur ganz genau kannte, sondern innig liebte. Es war die Erstausgabe des Simplicius Simplicissimus von Grimmelshausen.
Ich lebte mich rasch in die Beschäftigung ein, mir täglich einen Stoß Bücher zu holen, diese genau nach Verfasser, Titel, Verlag, Seitenzahl und nach vielen anderen Gesichtspunkten einzutragen und mit einem Reiter zu versehen, der die Nummer trug. Gelegentlich besuchte mich dann der Graf in der Bibliothek oder auf meinem Zimmer und kontrollierte meine Arbeit, indem er sich eingehend mit mir unterhielt. Dr. jur. et phil. h.c. Heinrich Graf Yorck von Wartenburg war der belesenste Mensch, den ich je kennengelernt habe. Auf allen Gebieten und durchaus gründlich. Yorck war Mitglied des Herrenhauses. Dort trat er für humanistische Bildung ein. Das war sein Steckenpferd. Und da hatte ich von Anfang an einen höchst schwierigen Stand. Denn zu der vornehmen Gesittung, Höflichkeit und Bildung, die der Graf besaß und zu der er auch mit höchstem Aufwand seine Kinder erzog und erziehen ließ, fehlte ihm, wie ich bald zu bemerken meinte, doch eins: Herz.
März. Die Stare pfiffen. Rentmeisters hatten ein Schwein geschlachtet, luden mich zu frischer Bratwurst ein. Sie waren gutmütige, treue Menschen, und ihr Sohn Hans war ein netter Junge. Drei Inspektoren von den Yorckschen Gütern waren zugegen und der Oberförster und der Dorflehrer, der Pfarrer und Otto. Es wurde spät. Otto und einige andere betranken sich sehr, und ich gab dem jungen Hans Dannenberg zum Schluß drei Zündhölzer und sagte: »Vergiß die drei nicht, Treue, Wahrheit und Sinn für Schönheit.« An der Mittagstafel fragte mich Komteß Püzze anderntags, wie ich das gemeint hätte. So schnell erfuhr im Schlosse jeder und jede jedes.
Nach dem Mittagessen forderte der Graf manchmal Otto und mich zu einer Partie Billard auf. Wir gingen dazu ins Gewölbe, wo uns der Mokka serviert wurde. Der Graf spielte ausgezeichnet. Otto war ihm noch ein wenig gewachsen, aber ich spielte sehr ungeschickt und wurde beim Spiel wie auch in meinem sonstigen Leben dort durch die Erkenntnis meiner Unterlegenheit immer unsicherer. »Sie wollen mich schonen«, sagte der Graf, wenn ich einen besonders schlechten Stoß getan hatte.
Bei Tisch führte der Graf die Unterhaltung, sofern keine besonderen Gäste zugegen waren. Er sprach immer geistvoll, sprudelnd, oft versteckt sarkastisch. »Zahlreiches Gelächter der Wogen«, sagte er. »Klingt das nicht sogar im Deutschen noch so schön wie im Griechischen?« Er war ein glühender Verehrer der Hellenen.
»Wollen Sie nicht einmal etwas edieren?« fragte er mich, »zum Beispiel Briefe von Scharnhorst?« Zunächst gab er mir Briefe und Aktenstücke