Am nächsten Tag war nach deutscher Rechnung der Heilige Abend. Ich war von Schmerz erfüllt. Auch besaß ich gar kein Geld mehr.
Wanjka und Fanjka besuchten mich. Sie brachten mir liebevolle Überraschungen, auch einen Kiefernzweig als Christbaumersatz. Wir gingen an den Meeresstrand. Dort lag noch das Wrack, schon etwas zerfallen, und nun vereist. Wir lagerten uns in der Nähe, steckten brennende Lichter in den Schnee und sprachen Gutes. Als wir dann gingen, sahen wir uns noch oft nach diesen Lichtern um.
Fanjka lieh mir drei Rubel, daß ich nach Halswigshof fahren konnte. Von Plattform 59 aus benutzte ich einen Bauernschlitten, der mich bis Jungfernhof fuhr. Dort ließ ich mich über die Düna setzen und legte die letzte Strecke zu Fuß zurück. Durch dick verschneiten Wald. Weihnachten war es.
Ich traf den Kaufmann Abramowitsch. Er erzählte, der Sarg mit der toten Ingeborg sei soeben angelangt, mit Tannenreisern verziert. Der Sarg wäre aus doppeltem Zink, und Nolcken und Seebach hätten ihn in einem Boot von Königsberg bis Halswigshof gefahren. Dann begegnete ich dem Gärtnerspaar und drückte den guten Menschen die Hände. Sie waren damit beschäftigt, in der Kuhallee links und rechts Tannenbäume aufzustellen.
Im Musikzimmer saß die Baronin mit Seebach und Fräulein Dieckhoff. Seebach erwiderte meinen Händedruck »Sag' nichts«. Ich konnte auch nichts sagen. Dann kam die Krankenschwester mit dem Baron.
In dem Zimmer, wo noch vor kurzem ein Traualtar gestanden hatte, stand nun der Sarg. Mit einem weißen Damast bedeckt, der mit Tannenreisern und Nelken besteckt war. Auf einem Aufbau dahinter brannten Kerzen in großen Leuchtern und leuchteten Blumen, die niemand freuten.
Alle Dienstboten begrüßten mich freundlich. Ich fragte Karling, wie Biegemann mit Ingeborg gelebt hätte. »O glücklich, o sehr glücklich!« sagte sie. Dann erzählte mir die Baronin ungefragt Näheres. Herzlähmung, nachts plötzlich Erbrechen, Kopf- und Brustschmerzen. Inges Augen fingen an zu flackern. Seebach holte einen Arzt, der aber nichts Bedenkliches fand. Biegemann mußte ihn aber bald nochmals holen und einen zweiten Arzt dazu. Ingeborg erkannte Seebach nicht mehr, verlor das Bewußtsein, war auf einmal tot. Seebach depeschierte an die Baronin »Ingeborg schwer erkrankt«. Und dann »Alles aus«, und dann nach Danzig an seine eigene Mutter »Mutter komme! Ingeborg eben gestorben.«
Die treue Karling saß mit Biegemann am Sarg, las im Gesangbuch. Seebach sagte: »Geh schlafen.«
Karling warf sich schluchzend über den Sarg. »Ich kein Schlaf.«
»Jetzt will ich es einmal umgekehrt machen«, sagte Biegemann und küßte der Dienerin die Hand. Dann schickte er sie fort. Er war selbst zum Umfallen erschöpft. Ich löste ihn ab, hielt die Totenwache von ein Uhr nachts bis acht Uhr früh, und ich steckte eine Nelke von dem Sarg zu mir.
Um acht Uhr gesellte sich mir wieder Seebach zu. Wir sprachen noch eine Weile zusammen. Ingeborg – von ihren Angehörigen streng behütet – war eine heimliche Trinkerin gewesen. Sie hatte, was niemand, auch Biegemann vor der Hochzeit nicht wußte, Eau de Cologne getrunken.
»Biegemann, warum habt ihr mir nicht einmal ein Wort geschrieben?« fragte ich nicht ohne Bitterkeit.
»Ich weiß nicht, wir lebten wohl zu sehr im Glück. Als Mangolds Teppich ankam, haben Inge und ich noch im Nachthemd darauf getanzt.«
»Biegemann, du hast ein gutes Herz. Aber es hat keine Flügel.«
»Ja, mir mußte alles mißlingen. Nun war ich in meinem Leben endlich einmal dazu gekommen, einen Beruf anzufangen.«
Mittags trafen Kampenhausen, Preston und andere Freunde ein, auch der Pastor.
Nach der Andacht wurde der Sarg vom Baron Nolcken, Seebach und anderen Freunden durch die verschneiten, mit Tannengirlanden verzierten Alleen nach dem Waldfriedhof getragen und dort bei Fackelschein versenkt. Ich warf ein grünes Zweiglein in die Grube und ging zu Fuß mit den Letten hinter dem Schlitten her zurück.
Andern Tags nahm ich stillen Abschied von Seebach und den anderen. Der Baron Nolcken konnte zum Schluß noch eine häßliche Bemerkung nicht unterdrücken, die meine Totenwache betraf. Aber die Baronin gab mir ein Tannenbäumchen mit und hausschlachtene Wurst, und sie sagte noch: »Ich danke Ihnen für Ihr warmes Herz.«
Es war der Tag nach der Wasserweihe. In meinem Coupé saßen vier Soldaten in bauschigen, kamelbraunen Mänteln. Sie knackten wie Maschinen Haselnüsse im Mund und lachten roh übers ganze Gesicht. Daneben ein dick vermummtes, lettisches Weib mit runden Backen und einem großen, mißförmigen Bündel auf dem Schoß.
In Bilderlingshof brachte ich ein Zimmer durch starkes Einheizen auf dreizehn Grad Kälte. Ich hupfte währenddessen von einem Bein aufs andere und mußte von Zeit zu Zeit meine Hände in den Hosentaschen wärmen.
Ich fuhr nach Riga, besuchte Fanjka und bestieg dann den Vorortszug, um zurückzufahren. In meinem Coupé saß zwischen lettischen Arbeitern ein älteres Ehepaar, das ich an ihrer Sprache als reichsdeutsch erkannte. Als der Zug sich in Bewegung setzte, wußte ich, daß es nach deutschem Kalender die Silvesterstunde war. Ich sagte halblaut »Prosit Neujahr«. So lernte ich zwei nette Menschen namens Böttcher kennen, die in meiner Nähe wohnten.
Es wurde noch kälter. Nun verstand ich Fanjkas und Wanjkas Warnung, nicht in das kalte Holzhaus zu ziehen. Ich heizte den Ofen. Ich zündete einen Petroleumofen und alle Kerzen an, die ich fand. Ich heizte mein Bett, indem ich nachts alle aufzutreibenden Decken und Vorhänge über mich zog und erst einmal minutenlang luftabgeschlossen hauchte. Das Brot war wie Stein. Die Butter bröckelte wie Sand. Der artesische Brunnen im Hof war zugefroren. Wenn ich Kaffee oder Würstchen kochte, dann zunächst nicht in Wasser, sondern auf Eis. Eis hatte die Wasserflasche zersprengt. Morgens war die Ofentür festgefroren. Den Klosettdeckel mußte ich jedesmal mit dem Beilrücken losschlagen. Vom Petroleumofen war das einzige in Frage kommende Zimmer mit Rauch und Gestank angefüllt. Aber ich wagte nicht zu lüften.
Und immer mal wieder kein Geld. Ich wartete. Ich wartete. Auf Wanjka und Fanjka, die mir immer wieder aushalfen, so gut sie's vermochten. Und auf den Briefträger, der meist nicht das brachte, worauf ich wartete. Kam dann ein Geld, von Seelchen, oder ein Honorar, dann fuhr ich eiligst nach Riga, löste meinen Chapeau claque oder die goldenen Manschettenknöpfe wieder ein und zahlte geliehene Gelder zurück. Dann genoß ich noch ein wenig das Leben unter gebildeten Menschen und kehrte mit dem letzten Zug in mein selbstgewähltes Exil zurück.
Es gab eine Wirtschaft in Bilderlingshof, aber im Winter verkehrten dort nur die ansässigen Letten, die gegen ihre deutschen und russischen Bedrücker feindselig eingestellt waren. Sonst nur ein paar unsaubere Handelsjuden.
Dem Schuster Pix brachte ich meine Schuhe zur Reparatur. Er bewohnte eine armselige, verqualmte Bude, in der tausend Gegenstände umherlagen und hingen, darunter eine Trommel, eine Gitarre, eine Mandoline. Während er meine Schuhe reparierte, spielte ich Mandoline, mit wildem Temperament. Nur um mich zu erwärmen.
Es wurde noch kälter. Mit Hammer und Kerzenflamme mußte ich morgens die angefrorene Ofenklappe freimachen. Ich war körperlich sehr zäh. Aber innerlich litt ich unter dem Warten auf Geld und dem Grübeln über die Zukunft.
Ein Haus in der Nachbarschaft brannte ab. Ich entnahm einem Gerede, daß es sich um Brandstiftung handelte. Zwei Rubel trafen ein. Ich fuhr nach Riga und sah mir im Russischen Theater »Der lebende Leichnam« an. Alle Mitwirkenden spielten gleich gut, so daß ich keinen Moment außer Bilde war, obwohl ich den Text nicht verstand.
Dann war ich wieder irgendwo mit Wanjka und Fanjka und deren Freunden zusammen. Es gab russische Fastengerichte, gebratene »Nigger« oder so ähnlich und »Baslick« oder so ähnlich und »Gurken-Nieren-Suppe« oder so ähnlich.
Der »März« akzeptierte »Gepolsterte Kutscher und Rettiche«. Das Gedicht »Freundschaft« wurde von allen Redaktionen abgelehnt.
In meinen derzeitigen, nicht