Kufstein wurde mir zu teuer. Ich gab mein Hotelzimmer auf. Als ich die Rechnung bezahlen wollte, fehlten mir noch sechs Kronen. Verlegen schützte ich einen Spaziergang vor, wanderte vor die Stadt und ließ mich in einem Garten nieder. Da hatte ich ein kleines Erlebnis, das mich später in Träumen verfolgte. Im Sande kroch ein Tier, das so aussah wie ein großer Tausendfuß. Ein vorbeitrottender Bernhardiner machte einen spielerischen Satz und quetschte dabei mit seiner Tatze die eine Hälfte des Tieres im Sande fest. Nun arbeitete das halb verschüttete Tier mit den Beinen, die es noch frei hatte, verzweifelt um sich.
Als ich bedruckst nach dem Hotel zurückging, las ich in einem Trafik, daß ich für wenig Heller im Lotto dreißig Kronen gewonnen hatte. Im Hotel erwartete mich eine zweite Überraschung. Ein Honorar, das ich allerdings erwartete, war telegraphisch eingetroffen.
So reiste ich mit fünfzig Mark nach Straß im Zillertal, wo ich unter unfreundlichen Menschen acht verregnete Tage verbrachte. Zwar fing ich eine kleine Liebelei mit der Postexpedientin an und sah ferner zu, wie man mit österreichischen Militärhengsten ländliche Stuten belegte. Aber das bäurische Postmädchen war blöde, und das Belegen dauert auch nicht ewig. Ich war froh, als mich Seele nach ihrer Sommerfrische ins Ötztal einlud. In Lengenfeld wohnte sie. Eine schöne Gegend. Aber dumm! Infolge Inzucht gab es unter den Einwohnern viele Idioten. Ich konnte mich stundenlang mit den idiotischen Kindern unterhalten. Seele war reizend zu mir. Ich lachte sie freundlich aus, weil sie die Manie hatte, auf Ausflügen so viel Blumen und Zweige abzurupfen, daß sie vor Schlepperei nie zu einem vollen Genuß kam. Aber sie liebte und pflegte die Blumen daheim zärtlich. Als ich auf einem Spaziergang ganz unnötigerweise, nur um kühn zu sein, in einer schmalen und kurzen, aber ganz steilen Felsspalte hochkletterte, von Busch zu Busch, mußte ich – da ich nicht mehr umkehren konnte – durch den Kadaver einer abgestürzten Kuh kriechen. Das war entsetzlich.
Ich wollte endlich wissen, wie es um Seebach stand, und fuhr nach München. Ich wußte, daß er ins Hotel Wagner übersiedelt war. Als ich nun dort sein Zimmer betrat, traf ich nur eine fegende, ältliche Zimmerfrau. Der Baron wäre soeben fortgegangen. Sie wüßte nicht, was der Baron eigentlich hätte. Er sagte immer was von Blutgeruch. Die Zimmerfrau hielt im Fegen inne und schnüffelte nach allen Seiten: »I riach fei nix!«
Biegemanns Geldangelegenheit hatte sich verzögert. Ein paar Tage logierte ich bei einer zärtlichen, klugen Frau, dann fuhr ich mit meinem Gepäck nach dem Hotel Wagner. Seebach und ein Oberkellner, Seite an Seite, waren gerade damit beschäftigt, unter laut anfeuernden Rufen und gleichmäßigen Stößen den Deckel eines überfüllten Rohrplattenkoffers zuzudrücken. Beide waren vor Anstrengung und Frühschoppen krebsrot im Gesicht.
Wir reisten ab. Zunächst nach Berlin, wo wir zwei Tage im Hotel Töpfer wohnten. Dann für einen Tag nach Danzig, wo Seebach seine Mutter besuchte, mit der er nicht sonderlich herzlich stand. Dann weiter nach Riga.
Halswigshof
Ich war schon lange darauf bedacht gewesen, meinen Wäschebestand zu ergänzen. Seelchen hatte mir einen weißen Anzug gekauft und einen Chapeau claque. Sogar einen Frack besaß ich. Den hatte mir ein Simplgast, der Rechtsanwalt Siegfried Herzberg geschenkt.
Unterwegs bekam ich zum erstenmal Streit mit Seebach. Ich flüsterte ihm im Speisewagen zu, daß ich mir sechs Schachteln Zigaretten in die Unterhose gesteckt hätte, die ich durch den Zoll nach Rußland einschmuggeln wollte. Biegemann war darüber empört. Das wäre unvornehm. Das wäre ein Betrug. Daraufhin zog ich beleidigt die Schachteln aus der Unterhose, was sich gewiß sehr komisch ausnahm, und warf sie aus dem Fenster.
In Riga stiegen wir aus. Ich suchte mir ein kleines Hotel mit dem vertrauenerweckenden Namen Parkhotel.
Ich wollte, daß Biegemann beim Wiedersehen mit seiner Braut allein wäre. Deshalb reiste er verabredeterweise voraus nach dem Gute Halswigshof. Er wollte mich nach zwei Tagen telephonisch abrufen.
Das Parkhotel kam mir bald sehr merkwürdig vor. Ein unheimlicher Wirt oder Portier hatte mir ein kahles Zimmer angewiesen und verhielt sich in jeder Weise mißtrauisch zu mir. Tagsüber war das Hotel totenstill. Nachts aber schlugen Türen zu, flüsterten, lachten, weinten Stimmen. Und ich war dumm genug, daraus keine Schlüsse zu ziehen.
Allerdings trieb ich mich den ganzen Tag über neugierig in der fremdartigen Stadt umher, die soviel Neues für mich und die drei Sprachen und drei Gesichter hatte.
Ich war zunächst nach dem Vorort und Badeort Bilderlingshof gefahren, um meine Freundin Fanjka zu überraschen, die dort mit ihrer Schwester ein Sommerhäuschen bewohnte. Sie wurde rot und blaß vor Aufregung, als ich an der Tür stand. Ich glaube, sie liebte mich. Fanjka war Lehrerin und hatte derzeit gerade Ferien. Auch ihre Schwester empfing mich herzlich, eine gesunde natürliche Dame, die bei der russischen Behörde angestellt war.
Die Schwestern führten mich ans Meer, zeigten mir den im Abendlicht rotglühenden Dünenwald, die Kiefern, die ich schon einmal nach einem Gemälde von Wanjka bedichtet hatte. Wanjka war noch in München. Sie hatte geschrieben, wie sehr sie bedauerte, nicht dabei sein zu können, da ich nun ihre Heimat kennenlernte.
Dicht am Strande lag das Wrack eines kleinen Schoners. Den hatte die See im Sturm über mehrere Sandbänke hinweg dorthin geschleudert. Wir erkletterten das Wrack. Und Fanjka erzählte, wie sie schon einmal, gleich nach jenem Sturm auf diesem Schiff gewesen wäre, keinen Menschen angetroffen, aber im Spind noch einen Rollmops gefunden habe.
Am nächsten Tage durchstreifte ich wieder die Stadt nach allen Seiten. Es gab hochelegante Lokale und Menschen. Ich saß einsam glücklich im Wörmannschen Park und hörte russische sentimentale Weisen spielen. Huren und Kokotten sprachen mich an, unglaublich zerlumpte Gestalten bettelten mich an. Ein Weib warf sich vor mir in den Staub, umklammerte meine Beine und rief: »O lieber Herr Baron, schenken Sie mir nur eine Kopeke!«
Es war der 18. Juni 1911 nach russischer Rechnung, als ich in meinem Hotelstübchen Tagebuch schrieb. Bei einem Wachslicht, weil ich für eine Petroleumlampe täglich 25 Kopeken bezahlen sollte. Ich hatte fast kein Geld mehr, war darüber voller Sorgen. Fünf Tage waren in Riga vergangen, ohne daß Seebach etwas von sich hören ließ. Hatte ich die Verabredung mit ihm falsch verstanden? Oder sollte er mir noch zürnen wegen des Streites im Eisenbahnzug? Es fiel mir ein, daß ich zuletzt auch noch mit Seelchen einen Zwist gehabt hatte, der zwar beiderseits versöhnlich beigelegt war. War ich wohl ein zänkischer Mensch?
Im Hinterhof vor meinem Fenster klang eine Ziehharmonika auf. Ich dachte wehmütig an ferne, längst vergangene Tage, da ich auch so ohne Geld dagesessen hatte.
Weil ich nun gar nichts mehr zu essen hatte, ging ich durch mehrere Bordelle und las den Mädchen ihr Schicksal aus den Karten und aus den Handlinien. Wenn man mich heute fragen würde, ob ich das denn konnte und kann, so käme ich in Verlegenheit und müßte eigentlich antworten »ja« und »nein«. Jedenfalls wußte ich, wie erpicht solche Mädchen aufs Wahrsagen sind, und ich verdiente mir einige Rubel.
Endlich rief ich telephonisch das Gut Halswigshof an, um Seebach zu sprechen. Seine künftige Schwiegermutter kam an den Apparat. Sie sprach herzlich und mit einer sympathischen Stimme. Warum ich mich nicht längst gemeldet hätte. Seebach hatte den Namen meines Hotels vergessen. Man erwartete mich sehnlichst. Ich sollte sofort in den Zug steigen und bis Plattform 59 fahren. Dort würde mich ein Wagen abholen. Wo ich denn nun eigentlich wohnte?
»Im Parkhotel.«
»Wo?«
»Im Parkhotel.«
»Wo?« Sie fragte noch mehrmals, und ich schrie immer wieder den Namen »Parkhotel« ins Telephon, hatte immer noch nicht gemerkt, daß dieses Hotel ein berüchtigtes Absteigequartier war.
Fanjka lieh mir Geld. Ich fuhr nach Plattform 59, verpaßte aber infolge eines Irrtums den Nolckenschen