Gesammelte Werke: Romane, Erzählungen & Dramen. Hermann Stehr. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Hermann Stehr
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788075831040
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Reisende in ihrem Gasthaus; da kamen die Mädchen auf das Doppelte. Hier sei das Mietgeld.

      Frau Schleider hält ein Talerstück hin. Marie erklärt endlich, sie ziehe in kein Gasthaus. Außerdem verlange sie hundertzwanzig Mark Lohn, und sie bleibt trotz alles Zuredens dabei. Wütend macht sich die Gastwirtin davon.

      Die Vermietsfrau kehrt auf ihren Stuhl zurück, und als die äußere Tür zuschlägt, bricht sie in ein vergnügtes Lachen aus.

      Sie ist eine noch gut erhaltene Fünfzigerin mit pechschwarzem, gescheiteltem Haar, auf dem ein schwarzes Spitzenhäubchen sitzt. Ihr Gesicht ist gelb, und sie hat die großen munteren Augen einer spielenden Katze.

      »Nee, nee, Schätzel«, mit diesen Worten kehrt sie von dem Fenster, wo sie gedankenlos an den Blättern der Topfpflanzen gezupft hat, zu Marie zurück, die unbeweglich auf dem Stuhle sitzt, starr, als müsse sie sich wegen vieler Schläge auf den Kopf mühsam aufrecht erhalten. »Dahier ei die Wirtschaft bist du mir doch zu gut. – – Aber das Dienstbuch, das Dienstbuch, das müssen wir haben!« mahnt sie nach einer Pause in mütterlicher Güte und läßt sich auf dem Stuhl der Frau Schleider ihr gegenüber nieder. Mit gespitztem Munde wartet sie auf Antwort. Marie sieht nur stumm und ratlos auf sie.

      »Du bist gefallen, he?« beginnt sie endlich zu fragen. Das Mädchen sieht sie erstaunt an. »Natürlich of den Boden oder of de Stiege gefallen, meen ich, a so, he?« Marie wird es heiß. Zögernd nickt sie.

      »Du hast den Stoß of de Seite gekrigt, gell ja, mei Schätzel! Er muß sein vermaledeit böse gewesen. Du hast ja dahier eene Beule wie ein Hühneree und kratzleberblau«, redet sie weiter, weil sie keine Antwort erhält, macht nach jedem Satze eine Pause, spitzt den Mund und kugelt die lustigen Katzenaugen. »Ich kann mir's ja denken, wegen was. Wie hübsch du bist. Da soll a ees. Gell ja?

      Nu da red' doch um's Himmels willn, Mädel! Du bist nie die erste und wirst au nie die letzte sein, der das passiert«, dringt die Negwern in sie und betrachtet mit Angst Maries Gesicht, das sich in Qual verzerrt. »Jesses, Schätzel, was is dir denn? Da red' doch ...«

      Plötzlich springt Marie leichenblaß auf, blickt wie irr geradeaus und stürzt sich dann stumm auf die Vermietsfrau. Frau Negwer hat sich noch rechtzeitig hinter den Tisch geflüchtet. Wie blind ist Marie auf den Stuhl zugesprungen. Als sie ihn leer sieht, weicht der Krampf von ihr. Die qualvolle Wut im Gesicht macht dem Ausdruck der Todestraurigkeit Platz. Sie stützt sich bebend an die Wand und wankt hinaus.

      Auf der dunklen Stiege begegnet sie einem Mann, der sie am Arm festhält, ihr mit einem Zündhölzchen ins Gesicht leuchtet und auf sie eindringt. Sie schlägt auf ihn los, springt die Treppe hinunter, sieht im Hof den jungen Holzschläger, wirft sich an seine Brust, reißt sich wieder los und stürzt fort. Menschenstimmen dringen auf sie ein; lange Häuserreihen rennen an ihr vorüber; das Feld ist um sie; Wasser rinnen vor ihr, in Angst kniet sie hin und betet, die Hände zum Himmel ringend; der Wald rauscht, Lichter und Schatten streichen über sie; sie kommt sich gefleckt vor wie eine Katze. Dann bricht sie zusammen. Sie hat die Empfindung, von einem Sturm gegen eine himmelhohe Wand geschleudert worden zu sein. Ihr Inneres zittert wie das Sommerfeld, über dem die Sonne kocht. In diesem Flimmern liegt sie bis gegen Abend. Dann erwacht sie, setzt sich auf und sieht sich erstaunt um. Sie ist im Hahnwalde, tief in hohem Holze. Ihre Kleider sind über und über mit Kot bespritzt, das Tuch hat sich verloren, die Haare sind aufgegangen und hängen ihr wirr um den Kopf.

      Als sie alles das erkennt, muß sie mit beiden Händen in das trockne Beerenkraut greifen, um nicht umzufallen, dann flicht sie sich die Haare, so langsam, als sei es nicht notwendig, zu Ende damit zu kommen, und wenn sie fertig ist, beginnt sie von neuem, und langsam rinnen Tränen über ihr verhärmtes Gesicht.

      –

      Mit dem zunehmenden Dämmern macht sie sich auf den Heimweg. Der Freirichterhof ist schon wie eine riesige schlafende Nachtwolke, als sie zu Hause anlangt. Auf der Schwelle der Wohnhaustür steht ihre Herrin, die sie erwartet zu haben scheint, nimmt sie warm an der Hand und führt sie wie ihr eigen Kind an den Mägden vorüber, die bei kleinen Laternen in großen Holzkübeln das dampfende Getränke für die Kühe rühren.

      Die Wohnstube, in die sie treten, ist leer und wird von einer Schirmlampe auf einem Ecktischchen nicht ganz erhellt.

      »Hier setz' dich her, tummes Mädel!« sagt Frau Wende und schiebt Marie einen Stuhl an den Tisch. »Der Herr is noch nich zurück vom Markte. Da wer ich amal a Wörtel mit dr reden.«

      »Frau!« ruft Marie, gerührt von dem herzlichen Mitgefühl ihrer Herrin. Die ganze Verzweiflung liegt in diesem Wort, das von ihrer Trauer bebt.

      »Nee, nee! Weinen is gut; aber das kannste droben in der Kammer alleene. Jetze erzähl' amal alles. Wenn de Zunge wackelt, kriegt's Herze wieder Odem.«

      Marie erstaunt über sich, wie es möglich sei, über dieses Furchtbare zu sprechen; aber je mehr sie redet, desto tiefer gerät sie in einen förmlichen Rausch, und sie sprudelt alles hervor.

      »Was soll ich machen, Frau!« Erschöpft beendet sie ihren Bericht von dem wilden Tage. »Wo ich hinseh', Grube an Grube. Und wenn's nich anders wird, muß ich zurücke und eis Wasser. An dem Dinge sterbe ich. Ob ich's mach oder laß.«

      Frau Wendes mageres langes Gesicht ist ernst, ihre Augen stehen voll Wasser. Das schräge Licht der Lampe erleuchtet mit roten Streifen ihre hohe knochige Stirn, die lange spitze Nase und das kräftige Kinn. Als sie sich jetzt gedankenvoll mit dem Zeigefinger und dem Daumen an den Mundwinkeln hinfährt, bebt ihre ausgearbeitete Hand mit dem knotigen Adergestränge.

      »Ja, ja, mein Mädel«, beginnt sie dann mit versunkenem Neigen ihres Kopfes. »Es hat halt jeder Mensch seinen Tag, an dem er zerbricht. Vor allem wir Weiber. Da hilft nischte. Wir machen's alles selber, was wir nich wollen. Wie, weeß freilich niemand. Aber auf eemal is da, steht draußen vor der Tür und pocht, daß uns himmelangst wird. Gehste nich naus und holst's rein zu dir, steigt dir's aufs Haus und drückt's Dach ein. Der Tod! Ja, der Tod! Das weeß ebens niemand, ob man da rauskommt aus allem, ob ma entzweischlägt oder selbst zerschlagen wird für immer.«

      Ihr Gesicht ist fahl, zur Unkenntlichkeit entstellt. Mit einem gewaltsamen Ruck springt sie auf und tritt an die Kommode, wo sie Gegenstände aufhebt und niedersetzt. Als sie an den Tisch kommt, ist ihr Schritt wieder sicher, und ihr Gesicht lächelt still wie immer.

      »Marie«, sagt sie mit scherzender Stimme und drückt ihre Hand; »nimm dir nichts von dem, was ich dir gesagt habe. Du bist jung. Aber ein alter Mensch ist wie ein alter Topf. Was man auch reingießt, alles wird sauer. Nee, nee. Ich weeß wohl, weil du hübscher bist, willst du hoch naus. Red' nich erst! Aber mit den hübschen Gesichtern is wie mit dem scheenen Tage. Je warmer er is, desto eher regnet's. Mit'm Himmel kann niemand sei Haus decken, und rote Backen machen nich satt. Du hast weder Vater noch Mutter. Da sollste froh sein, so unterzukommen. Exner hat das Wirtschaftl und noch Geld ausstehn. Daß er nich lumpft wie die andern, is doch keene Schande. Und mit dem Fuße! Is er nich sonst, wie er sein muß? Een Fehler hat jedes, du auch. Der! Wen er haben will in Steindorf, kriegt er. Nee, er will dich. Ich Hab' mich erkundigt. Jedes im Dorfe weiß das.«

      »Jedes?« fragt Marie erschrocken dazwischen.

      »Nu, nach dem gestrigen Abend im Gasthause freilich.«

      »Aber ich nich.«

      »Ach was! Geh du jetze und iß dich satte und schlafe. Geh und überleg' dir alles, was ich gesagt habe, und merk' dir noch eens: niemand kennt sei Glücke. Gute Nacht! Aufs Frühjahr bist du junge Frau im eignen Hause, auf eignem Felde, und dann sind wir gar Nachbarn.« –

      Marie drückte der guten Frau herzlich die Hand und suchte, ohne zu essen, ihre Kammer auf. Bald stand sie ausgekleidet vor ihrem Bett, gottverlassen wie heute früh, und der ganze Sturm von Kummer und Verzweiflung hatte gar nichts genützt. Mit schwerer Hand ordnete sie die zerwühlten Kissen notdürftig und legte sich nieder, mit dem Erstaunen über sich, daß ihr Auge trocken blieb und ihre Seele ruhig. Nach einer Weile setzte sie sich auf und griff um sich. Aber wo auch ihre Hände hintasteten, waren Bretter. Mit stumpfem Gleichmut nahm sie die Täuschung, in einer Kiste zu liegen, als Gewißheit hin, und wieder zurücksinkend,