»Ich dacht', Sie hätten keins«, erwiderte der Förster jetzt mit schneidendem Sarkasmus. »Denn Ihrer Nase sieht man's nicht an, und bei der Gelegenheit können Sie sich auch hinter den Ohren abtrocknen.« Und als der Fremde zu einer Grobheit ausholte, kam über den alten Grünrock die lange zurückgehaltene Wut. Seine Halsadern schwollen daumendick an.
»Halten Sie's Maul«, schrie er und sprang auf, »wissen Sie, wer ich bin? Ich bin der Königliche Förster Knölle aus Steindorf, und wo der is, da hat's nischt von Holzstehlen und Raubschützen ...«
Auf einen Wink des Gastwirts blies die Musik einen Tusch, während welchem die beiden Männer auf einander einschrien. Dann ging die Fanfare in einen Tanz über.
Der Schuster trat heran und bat Marie um einen Tanz. Als sich das Mädchen erhob, riß der Graue den Kopf herum und maß sie einen Augenblick mit zornfunkelnden Augen, um sich dann zurückzuwenden, wer hinter seinem Stuhle stehe. Er kannte den Schuster, schrie: »Immer los!« und versetzte dem Mädchen unter dem Ausruf: »So ein Mensch wär's wert, daß ich mich ... so 'ne Darre!« einen so heftigen Stoß in die Seite, daß sie einige Schritte taumelte und dann in zähem Fall hinschlug.
Die Musik verstummte wie mit einem empörten Aufschrei. Ein Augenblick starrer Beklemmung folgte der Roheit. Alles sah schweigend auf das Unbegreifliche.
Ein Schrei, ähnlich dem, mit welchem ein wild gewordener Stier die Ketten seines Standes sprengt, zerriß die Stille. Dumpf fiel ein Tisch zur Erde, Gläser zerschellten am Boden, und mit holperndem Schritt eilte der Lahme vor das Chor. An dem kleinen Tisch hielt er an. Sein Gesicht war aschfahl; seine Augen standen wie tot im Weiß, nur ihr Zittern verriet Leben. Durch den halbgeöffneten Mund stieß rauschender Atem. Zorn schüttelte die ganze knochige Gestalt. Der Fremde bemühte sich zu lächeln, wurde aber bleich bis hinauf in die feuchten Haare. Ein Stutzen. Ein sekundenlanges Sichmessen. Nun sauste wie ein riesiger Stein des Lahmen Faust auf den Kopf des Grauen.
Lautlos, blutüberströmt, brach er zusammen. »Das is vom Bettelmann!« »Und das is vom Holzdiebe!«
Mit diesem zweiten rauhen Ruf packte der Klumpen den Ohnmächtigen und warf ihn in mächtigem Schwünge auf die Hausflur.
Und dann sah er erstaunt an sich nieder wie neugierig, als betaste er mit seinen Blicken nicht sich, sondern etwas Fremdes.
Da fiel sein Auge auf die ohnmächtige Marie. Mit dem Gesicht gegen die Erde lag sie da wie eine Tote. Aus ihrer Stirn sickerte Blut und bildete eine kleine Lache.
Er betrachtete sie aufmerksam, ohne sich zu regen. Dann lächelte er glücklich, und endlich unter einem rauhen Jubelruf beugte er sich nieder, hob das Mädchen auf, hielt sie gegen das Licht und bedeckte das blasse, schöne Gesicht mit heißen Küssen.
Sein Leib bebte, als er sich behutsam mit seinem Raube der Saaltür zuwandte und im Dunkel der Hausflur verschwand.
Kaum war er draußen, so sprang der alte Förster Knolle in die Mitte des Saales und rief mit Kommandostimme: »Silentium!«
Er war gewissermaßen der oberflächlichen Amtsführung durch den Grauen bezichtigt worden und glaubte als Staatsbeamter sich verpflichtet, die öffentliche Ordnung zu verteidigen, kurz, ihn trieb es, seine berühmte Rede zu halten.
»Silentium!« wiederholte er mit drohender Stimme, da sich Stimmengewirr erhob, und murmelte in den Bart: »Ich wer euch die Kappe mal lausen, ihr verfluchten Hunde!« »Silentium!« brüllte er das drittemal. Aber niemand sah erst auf ihn hin. Man saß an den Tischen und unterhielt sich heftig gestikulierend. Knölle sah sich betroffen um; endlich raffte er sich doch auf und hielt seine Ansprache über Keilerei, Anstand, Demangthie, rabiate Rotzlöffel, Wildzaun, Kultur, Nadelhölzer, Bismarck, Holzabfuhr, Luther und schloß mit einem dreimaligen Hoch auf »Seine Majestät, den allergnädigsten Kaiser«. Darauf begab er sich in soldatischer Haltung an seinen Platz. Die Melitten bliesen einen Tusch, der Wirt bedankte sich für die »scheene Rede«, und bald drehten sich die Paare wieder unter den rotleuchtenden Deckenlampen hin.
Der Klumpen hatte Marie bis ans Tor des Freirichtergutes getragen und, weil sie das Bewußtsein noch immer nicht wiedererlangt hatte, ihre Stirn mit dem Reif des Grases bestrichen. Endlich, mit einem gähnenden Laut, öffnete sie die Augen und blickte erstaunt um sich.
»Was willst'n du da?« sprach sie zu dem Manne, der, neben ihr kniend, sie umschlungen hielt und fortwährend murmelte: »Mariela, wach uf, wach uf.« Sie riß sich los und sprang erschreckt auf; auch der Klumpen erhob sich. »Sei och stille, siehch, Mariela«, redete ihr der Lahme zu, »ich bin Exner Karla vo dahier«, und nun erzählte er ihr alles, was sich zugetragen hatte. Sie erinnerte sich an den Vorgang, unterbrach ihn mit den Worten: »Da bin ich noch lange nie ›Mariela‹, verstehste! Ich dank dr scheen fir alles, und dadermit is gut«, drehte sich um und drückte prüfend auf die Falle der kleinen Hoftür, um hineinzugehen. Der Lahme faßte sie am Arme: »Mariela, siehch och, ich dächte, es wird dich halt nie viel nutzen, denn ich ...«
»Ach du! Hab' ich der nie gedankt?« »Nach, iberleg dir's; du mußt –. Sonntagnachmittag kommst de zum Klose Schuster, gell och. Da kenn mr ja 's andere bereden.«
»Was bildst du dir denn ein!« erwiderte Marie entrüstet.
»Um dreie rum; ich wart auf dich«, sprach der Klumpen leise, aber bestimmt, und als er sah, wie das Mädchen, ohne zu antworten, hinter der kleinen Hoftür verschwand, machte er sich ohne Mütze schweigend auf den Heimweg.
5
Marie suchte bald das Lager auf. Ihr Bett stand, wie das der anderen Mägde, in einer Kammer unter dem Dache. Durch Bretter war für sie ein besonderer Verschlag geschaffen, in dem außer ihrem Bett nur noch eine »Lade«, ein hölzerner Kasten für ihre Kleider, stand. Auf diesem saß sie eine Weile, nur mit einem Rock bekleidet, um sich ein wenig abzukühlen, denn sie war heiß wie von Fieber. Sie glaubte, es rühre von der Wunde an ihrer Stirn, und stand auf, ihren Kopf an die Scheibe des Dachfensters zu lehnen. Es war eine dunstige Helle draußen, und der Mond sah aus wie eine weiße Esse, der fortwährend Wolken eines leisen, behutsamen Rauches entquollen und wankend dem Geäst der Bäume zutrieben. In dem Gewirr der Zweige verschwanden sie, wie von dem kleinen, knotigen Gestülp aufgesogen, und jedesmal schwankte dann wieder von dem blassen, unsicheren Monde eine Dunstwelle behutsam und leise zu ihr herüber. Sie starrte unbewegt auf dies eintönige, stumme Spiel des weißen Nachtnebels hin, das nicht nur den Schmerz der Wunde in einen pulsenden Druck auflöste, sondern auch in die Last ihrer jüngsten Erlebnisse ein, wenn auch noch leeres Auf und Nieder brachte. Aber nicht lange, und ihr ganzes Wesen wankte nach dem Takte, der die blassen Schleier da draußen herantrieb. Marie biß die Lippen aufeinander und hielt sich mit beiden Händen an die Dachleisten an, die am Grunde des Kammerfensters hinabliefen. Indessen hatte sie immer peinigender das Gefühl, dieses Wogen des Nebels hebe sie auf und nieder und wolle sie fortspülen von hier. Als diese Empfindung sich zu einer unerträglichen Gewißheit steigerte, sprach sie stark vor sich hin: »Nein! Ich muß nicht! – ha!« –
Damit teilte sich das Dunkel über ihrer Seele, und die Macht, die in der Nacht auf sie eindrang, nahm die Gestalt an, die auf so rätselhafte Weise schon zweimal ihren Weg gekreuzt hatte. Sie sah den Lahmen auf den Schleiern zu ihr herschreiten, aber nicht in der Kleidung, die er diesen Abend getragen hatte, sondern in langen Schaftstiefeln und der kurzen Joppe, in deren Hüllen seine Arme gleich langen Stangen steckten. Den Kopf auf die Seite geneigt, daß die breitrandige Schildmütze über die Stirn fuhr, kam er mit seinen ungleichen Schritten auf sie zu, mit einem Gesicht voll unbeweglicher Entschlossenheit, 's is ja all's bloß Dummheit, dachte sie bei sich und ging auf ihr Lager zu. Als sie aber fühlte, wie sie wankte, stützte sie sich mit der Linken an der Wand und wiederholte drohend und voll Hohn: »Nee! ich muß nich, das merk dr!«
Dann warf sie sich schwer aufs Lager, mit dem Gesicht gegen das Kissen, denn der Schmerz in der Stirn hatte wieder zu wühlen begonnen, und