Unten drehte sie sich plötzlich um und breitete die Arme nach mir aus, und ich sank ihr an die Brust. Ihre Tränen rannen über meine Wangen. Dabei hörte ich sie hauchend reden, so vieles Liebe, Süße, Geheimste, wie es ein Mutterherz nur aufbewahren kann in seinen himmeltiefen Schächten. »Da.« sagte sie und machte sich los. »da, und wenn du Hilfe brauchst, hier gebe ich dir ein Rezept. Gebrauch' die Medizin, sie hilft in aller Not, mein lieber, lieber Junge!«
Verschämt, mit einem rührend weichen Ernst um ihre schmalen Lippen, drückte sie mir einen einfachen Zettel in die Hand.
»Geh' nicht mit, es macht dir's nur schwerer. Noch einmal, Gott mit dir, Junge!« sprach sie schnell, küßte mich noch einmal und war verschwunden. Noch lange stand ich da an der dunklen Treppe mit dem Zettel in der Hand und wußte nicht warum. Endlich kam ich zu mir und schlich in den Hof, wo eine kleine Laube stand. Dort entfaltete ich das Papier. In großen Kinderbuchstaben hatte meine Mutter mit einem Zimmermannsbleistift darauf geschrieben: Oh, du heiligstes Herz Jesu, du süßeste Mutter Gottes, Maria, steh' mir bei! Ein Vaterunser und Ave Maria.
Droben hörte ich die Jugend meiner neuen Kameraden lärmen. Das Raunen des Abends bewegte die springenden Knospen der Bäume; die Glocken der Stadt sangen in das blasse Gold des leise sterbenden Lenztages hinein. Mir ward es von kommenden Tränen grau vor den Augen. Aber ich sagte mir, ich sei nun allein, auf mich selber gestellt, da schicke es sich nicht wie ein Mädchen zu weinen. Den Zettel barg ich, sorgsam gefaltet, in meinem Taschenbuch und ging hinauf in die Stube.
Noch einmal wurde ich in die Demut und gesegnete Einfalt meiner Kindheit zurückgeführt. Hinter dem Wall rüder Tollheit, hinter dem Gewölk bitterer Erfahrungen hatte sie geschlafen wie eine Rose. Ihr Duft ward noch einmal wach. Von dem Herzen und den stillen Augen meiner Mutter entzaubert, strömte über mich der alte Glaube, die bedingungslose Hingabe, die Selbstentäußerung Gott und der Kirche gegenüber. Gerade in der ersten Zeit der Fremdheit unter meinen neuen Genossen und in der Fremde bildete dies fast meinen einzigen Halt. Ein wenig mißtrauisch bewegte ich mich unter meinen Mitschülern und nahm unter der Maske frühreifer Überlegenheit nur von fern und außen Teil an den Ausgelassenheiten, durch ein hingeworfenes Wort, ein fröhliches Krümmen der Lippe, oft nur durch eine Gebärde. Ich muß sagen, dieses Bescheiden, das eigentlich ohne Absicht über mich gefallen war, aber doch von dem Trotz festgehalten wurde, weil ich bemerkte, welche Vorteile es mir brachte, kam mich leidenschaftlichen, aktiven Menschen hart an und vergrößerte anfangs die Schwermut, wenn ich mutterseelenallein des Sonntags nachmittag in der kahlen Stube vor meinem Buche saß, während die andern alle im Freien umhertollten. Aber drückte es mich gar zu herb ins Herz, dann riegelte ich die Tür ab, kniete an das Fenster, das nach den fernen Bergen meiner Vaterstadt sah, zog den Zettel meiner Mutter hervor und betete für meine Eltern.
Mit einem kecken Sprung gelangte ich dann mitten in das Leben, das meine Mitschüler führten, in diese phantastische, abenteuerlich-heldenhafte Springprozession. An einem spätsommerlichen Regentage saß ich an einem Fenster unserer Bude und hielt, ohne zu lesen, ein Buch auf meinen Knien. Die Schüler der oberen Klasse Kaliske, Brandt und Rieder standen in leisem Geplauder am andern Fenster, vor dem Bett Brandts, der durch eine stoische Art in den Geruch eines Philosophen gekommen war. Die beiden Brüder Schick, Söhne eines Försters, saßen am Tisch einander gegenüber. Der Ältere, gelangweilt und bitter, lag, den Kopf in die linke Hand gelümmelt, halb über den Tisch und schlug, von Zeit zu Zeit einen derben Fluch und eine Verwünschung auf seinen geizigen Vater ausstoßend, mit der Faust auf den Tisch, um dann wieder für lange in dumpfe Verzweiflung zu verfallen. Sein jüngerer Bruder, dem wegen des Stockschnupfens immer der große fette Mund sperrangelweit aufstand, betrachtete ihn mit einer Miene, die halb Kummer, halb Ärger ausdrückte, schweigsam und gründlich. Endlich sagte er einfach und bestimmt: »Du bist ein Esel!« Das Spiel wiederholte sich zwischen beiden jedesmal, wenn die gemeinsame Kasse bis auf den letzten Heller erschöpft war, und jedesmal auch stürzte der Ältere, durch die Beleidigung aufgebracht, ohne Kriegserklärung auf den mit dem Stockschnupfen und wälzte sich mit ihm im stummen, ergrimmten Kampf auf dem Boden umher, bis der Jüngere blaß gewürgt und zerzaust dalag. Der schwermütige Emil nahm dann in der Haltung des Propheten Jesaias den früheren Platz am Tisch ein und verfiel in sein altes Brüten. Der Stockschnupfen-Gustav trödelte mit zuckender Lippe und bösen, weiten Augen seine Kleider zurecht und verließ mit allen Zeichen tiefster Verachtung die Stube. Ehe er die Tür schloß, kehrte er sich noch einmal zurück und rief seinem Bruder als lieblichen Scheidegruß das Wort »Luder« zu. Ohne sich zu erheben, mit einem fürchterlichen Schmetterschlag auf die Tischplatte, jagte ihn der in eilige Flucht. Belustigt hatten wir alle den brüderlichen Zweikampf verfolgt, nun kehrte jeder wieder zu seinem Interesse zurück. Am Bette Brandts floß das Geplauder ein wenig erregter weiter; vom Ofen her, wo Kristen und Mach Schach spielten, ohne es recht zu verstehen, krakelte er wieder fort. Ich hob mein Buch auf das Fensterbrett und suchte die Stelle, wo ich mich unterbrochen hatte. Aber es lag doch nicht mehr der alte Frieden der Langeweile über uns unfreiwillig Gefangenen. Der kleine Raufhandel hatte alle reizbar gestimmt. Am Ofen ertönte bald der schrille Protest Kristens, dem ein Bauer seines Gegners die Königin geraubt hatte, und trotz des demütigen, wortreichen Zuspruches des kleinen Mach erklärte der Geschädigte diese Handlungsweise hartnäckig für eine rohe Gemeinheit, ohne indes etwas anderes, als erneute langatmige Erklärungen zu erzielen. Endlich strich er ärgerlich die Figuren vom Brett und beide setzten sich, wenn auch nicht feindselig, so doch verbittert, an den Tisch. Es war nun ganz still in der Stube. Das Gespräch der drei Großen hatte sich erschöpft, und außer den Regenschnüren, die gegen die Fenster peitschten, rührte sich nichts, was dieses gallige Lasten, dies mißmutige Gespanntsein abgeleitet hätte. Da löste sich Kaliske von der Gruppe am Fenster und begann, immer vor dem Tisch hin und her, einen Spaziergang in der Stube. Es war ein bunter, verwickelter Mensch, mit einem sehnigen, unruhigen Gesicht, das älter aussah als seine siebzehn Jahre. An der rechten Seite seiner großen geknickten Nase saß, gleich einem erbsengroßen, haarigen Käfer, eine Warze, und um die hohe Stirn blühte wie ein goldiger Schein eine Fülle krausen, rotblonden Haares. Nach einigen Pendelgängen begann er in einer selbsterfundenen Sprache einen komischen Monolog, der sich immer mehr entzündete und zuletzt nur eine leidenschaftliche Jagd von Fratzen war. In solchen Augenblicken befand sich Kaliske in einer vierten Dimension, in einer Art Rausch, und keiner von den jüngeren Schülern wagte zu lachen, weil der Redner dann augenblicklich in Wut verfiel und mit Ohrfeigen um sich warf. Mich aber juckte an diesem Tage der Übermut, und ich lachte bei einer seiner irrsinnigen Kapriolen laut heraus. Sogleich sprang er auf mich zu und herrschte mich, die rechte Hand streckend, an: »Larikassimatutu!« Das hieß: Wenn du nicht gleich den Mund hältst, hau' ich dir eine runter! Sein Gesicht war zornrot. Aber ich ließ mich nicht schrecken, schnellte zu meiner ganzen Größe auf, daß ich ihn um Handbreite überragte und erwiderte: »Versuch's nur!« Der Traumzustand wich sofort von ihm, und er wandte sich verblüfft zu Brandt hin, der von seinem Bettrand aus dem Vorgang mit philosophischer Gelassenheit zuschaute. Er war einer der gefürchtetsten Keiler, und um mich Renitenten in die gebührenden Schranken zurückzuweisen, sagte er ruhig: »Mach' dich nicht mausig, sonst kriegst du's mit mir zu tun!« Aber zum Erstaunen aller senkte ich auch jetzt noch nicht die Fahne der Empörung, sondern erwiderte: »Das ist mir egal!« Sogleich erhob er sich mit höhnischem Auflachen, zog Kaliske zurück und fragte wegwerfend, ob ich etwa Lust hätte, mit ihm zu boxen. Dabei bohrte er seine blauen, nichtssagenden Augen in die meinen und schnellte die rechte Faust schlagend in die Luft. Weil mir nichts übrig blieb als schmachvolle Unterwerfung oder rühmlicher Untergang, so wählte ich den Kampf. »Natürlich bis zur Erschlaffung,« sagte er dumpf, »Pardon gebe ich nicht.« »Ganz wie du willst«, antwortete ich. Rieder, ein sanftmütiger Bursche, hatte den Handel bis hierher gehen lassen, nun übernahm er die Vermittlung, um den Streit aus der Welt zu schaffen. Als Stubenältester war er verantwortlich für den Frieden und die Ordnung in unserer Bude. Aber weil Brandt erklärte, mich nur schonen zu wollen, wenn ich mir von Kaliske eine »herunterlatschen« lasse, mußte ich fest bleiben, obwohl Schick, Kristen und Mach in Angst auf mich eindrangen, doch nachzugeben. Die Beschwichtigungsversuche waren also fehlgeschlagen. Rieder ließ sich von allen das Ehrenwort geben, nichts zu verraten, und verriegelte die Tür. Schick, Kristen und Mach rückten entsetzt am Tisch zusammen. Kaliske nahm seine Geige aus dem Kasten,