Eines schönen Morgens waren die Leute höchlichst erstaunt, Lord Fauntleroy, in ganz andrer Begleitung, als der seines Grooms ausreiten zu sehen. Der neue Begleiter ritt einen schweren, mächtigen Schimmel und war kein andrer, als der Graf in Person. Fauntleroy hatte diesen großen Gedanken angeregt, indem er eines Morgens beim Aufsteigen bemerkte: »Ich wollte nur, du kämest auch mit. Das Reiten macht mir gar nicht so viel Freude, weil ich dann immer denke, wie ganz allein du in dem großen Schlosse bist,« und dabei sah er den Großvater erwartungsvoll an.
Ein paar Minuten darauf herrschte unerhörte Aufregung im Stalle; es war der Befehl eingetroffen, daß Selim für Seine Herrlichkeit gesattelt werden solle. Von da an ward Selim fast täglich gesattelt, und die Leute gewöhnten sich ganz daran, den großen alten Herrn mit den weißen Haaren und dem scharf geschnittenen, noch immer schönen Gesichte auf dem wuchtigen, breit gebauten Schimmel zu sehen, und daneben den hübschen braunen Pony mit Lord Fauntleroy. Während dieser gemeinsamen Ritte wußte Cedrik immer viel zu plaudern in seiner heiteren, harmlosen Weise, und der Großvater wurde allmählich über »Herzlieb« und ihr Leben aufs genaueste unterrichtet und schien seinem kleinen Freunde nicht ungern zuzuhören. Zuweilen hieß er ihn dann galoppieren und sah ihm mit wahrer Herzensfreude nach, wenn der Bursche stramm und flott dahinsauste, und wenn er dann zum Großvater zurückkehrte, seine Mütze schwenkend und ihm ein lustiges »Hallo« entgegen schmetternd, fühlten beide, daß sie sehr gute Freunde geworden waren.
Der Graf erfuhr auch bald, daß die Mutter seines Erben kein müßiges Leben führte; er erfuhr, daß sie den Armen und Kranken wohl bekannt war und daß der leichte Brougham unfehlbar vor jedem Hause hielt, wo Sorge oder Krankheit eingekehrt war.
»Denke dir,« berichtete Ceddie, »wo sie nur sich zeigt, sagen die Leute: ›Gott segne Sie‹, und die Kinder laufen herbei, um ihr die Hand zu geben. Den größeren gibt sie auch Nähstunde bei sich und sie sagt, sie komme sich nun so reich vor, daß sie den Armen helfen müsse.«
Es war dem Grafen keine unangenehme Entdeckung gewesen, daß seines Enkels Mutter hübsch und in ihrer ganzen Erscheinung eine vollkommene Dame war; auch daß sie bei den Leuten beliebt war, behagte ihm. Und doch kam es oft wie Eifersucht über ihn, wenn der Junge von seiner Mutter sprach, und er hätte die erste Stelle in dem jungen Herzen einnehmen mögen.
An diesem Morgen zeigte der Graf von einer kleinen Anhöhe aus mit seiner Peitsche auf das unermeßlich weite, blühende Land vor ihnen.
»Weißt du eigentlich, daß das alles mir gehört?« fragte er Cedrik.
»Wahrhaftig? Das alles dir – dir ganz allein?« rief der Junge aus.
»Und weißt du auch, daß es eines Tages dein Eigentum sein wird?«
»Meins?« sagte Fauntleroy, mehr erschrocken, als erfreut. »Wann?«
»Nach meinem Tode.«
»Dann will ich's nicht. Du sollst nie sterben, Großvater!«
»Nett von dir,« bemerkte der Graf trocken. »Trotzdem wird es eines Tages so kommen und du bist dann Graf Dorincourt.«
Der kleine Lord schwieg einen Augenblick und sah in die weite, grüne Ebene hinaus, in der das Dorf zerstreut lag, dann seufzte er tief auf.
»Woran denkst du?« fragte der Graf.
»Ich denke, daß ich doch noch ein recht kleiner Junge bin, und dann auch an das, was Herzlieb mir gesagt hat.«
»Was hat sie dir denn gesagt?«
»Sie sagt, es sei gar nicht leicht, reich zu sein, und daß, wenn man so viel besitze, es einem leicht geschehen könne, zu vergessen, daß andre weniger haben, und daß man daran immer denken müsse, wenn man reich sei. Ich hab' ihr erzählt, wie gut du seiest, und da hat sie gesagt, das sei um so mehr ein Glück, als ein Graf so große Macht in Händen habe, und wenn er nur an sich denken würde, könnte das für viele ein Unglück sein. Und nun hab' ich eben all die vielen Häuser angesehen und hab' mich besonnen, wie ich's wohl machen werde, um immer zu wissen, was die Leute brauchen, wenn ich Graf bin. Wie hast denn du das gemacht?«
Da Seine Herrlichkeit an seinen Pächtern nur insoweit Anteil nahm, daß er sie fortjagte, wenn sie nicht zahlen konnten, war die Frage etwas schwierig zu beantworten. »Newick besorgt das,« sagte er kurz und strich sich den grauen Schnurrbart. »Wir wollen jetzt nach Hause,« setzte er hinzu, »und wenn du ein Graf bist, so sieh zu, daß du ein besserer wirst, als ich gewesen!«
Etwa eine Woche nach diesem Ritt kam Fauntleroy, mit sehr bekümmertem, traurigem Gesicht von dem Besuche bei seiner Mutter zurück. Er setzte sich auf den hochlehnigen Stuhl, in dem er am Abend seiner Ankunft gesessen hatte, und sah eine ganze Weile in die noch glühende Asche im Kamin. Der Graf beobachtete ihn im stillen und war gespannt, was nun folgen würde, denn daß er etwas auf dem Herzen hatte, war sicher. Endlich blickte Cedrik auf: »Weiß Newick alles von den armen Leuten?« fragte er.
»Er sollte alles wissen,« erwiderte der Graf. »Hat er etwas vernachlässigt – hm?«
So voll Widerspruch ist die menschliche Natur, daß der alte Herr, der sich sein lebenlang nicht um seine Gutsangehörigen bekümmert hatte, an dem Interesse des Kindes für die Leute und an der ersten Gedankenarbeit, die der kleine Lockenkopf in dieser Richtung vollbrachte, seine ganz besondre Freude hatte.
»Es gibt im Dorfe,« sagte Fauntleroy, ihn mit weitgeöffneten, schreckerfüllten Augen anblickend, »eine Gegend, am äußersten Ende, Herzlieb hat es gesehen, dort stehen die Häuser ganz nahe bei einander und sind alle am Einfallen, man kann kaum atmen drin, und die Leute sind so arm, und alles ist so gräßlich! Oft haben sie Fieber, und die Kinder sterben und vor lauter Elend werden die Menschen bösartig! 's ist viel schlimmer als bei Bridget! Der Regen läuft zum Dache herein! Herzlieb hat eine arme Frau besucht, die dort wohnt, und dann hab' ich sie gar nicht küssen dürfen, eh' sie sich anders angezogen hatte. Wie sie mir es erzählt hat, sind ihr die Thränen aus den Augen gestürzt.«
Auch in seinen Augen standen Thränen, aber trotzdem lächelte er voll Zuversicht, als er aufsprang und sich an des Großvaters Knie schmiegte.
»Ich hab' ihr gesagt, daß du das nur nicht wüßtest, und daß ich dir's sagen wolle. Du kannst ja alles besser machen, wie du's bei Higgins gut gemacht hast. Du hilfst ja allen Menschen! Newick muß nur vergessen haben, dir das zu sagen.«
Newick hatte es nicht vergessen, er hatte seinem Herrn sogar mehr als einmal die verzweifelte Lage der Leute in diesem »Grafenhof« genannten Teile des Dorfes geschildert. Er kannte sie wohl, die windschiefen, elenden Spelunken mit den nassen Wänden und zerbrochenen Fensterscheiben und löcherigen Dächern, in denen Fieber und Elend hauste. Mr. Mordaunt hatte ihm das alles oft und viel in den schwärzesten Farben gemalt, und dann hatte der Graf eine sarkastische Antwort gegeben, und wenn die Gicht gerade schlimm war, hatte er erklärt, je früher das Gesindel draufgehe, desto besser. Aber als er jetzt auf die kleine Hand auf seinem Knie heruntersah und von der Hand in die ehrlichen, offnen, vertrauensvollen Augen, da überkam ihn ein Gefühl, das mit dem der Scham starke Ähnlichkeit hatte.
»Was?« sagte er. »Nun willst du auch noch einen Erbauer von Musterwohnhäusern aus mir machen? Was für eine Idee!«
»Die greulichen Häuser müssen abgerissen werden,« erklärte Cedrik eifrig. »Herzlieb sagt es. O bitte – bitte, wir wollen sie morgen schon abbrechen lassen! Und wir wollen selbst hingehen; die Leute freuen sich so, wenn sie dich sehen – sie wissen's dann schon, daß du kommst, um ihnen wieder zu helfen.«
Der Graf stand auf. »Komm, wir wollen unsern Abendspaziergang auf der Terrasse machen,« sagte er mit einem kurzen Auflachen, »und uns die Geschichte überlegen.«
Neuntes Kapitel.
Schwere Sorgen