Cedrik atmete tief auf. »Ich möchte ihn so gern sehen, o, so furchtbar gern. Aber ich habe jetzt keine Zeit.«
»Könntest du den Besuch nicht auf morgen verschieben?«
»O nein,« sagte Fauntleroy. »Herzlieb hat den ganzen Tag immerfort an mich gedacht, und ich an sie.«
»So so, wahrhaftig,« sagte der Graf. »So klingle nur.«
Während sie die Avenue entlang fuhren, war der alte Herr ziemlich schweigsam, Fauntleroys Züngchen dagegen stand nicht still. Er sprach natürlich nur von dem Pony – wie groß er sei, wie er heiße, wie alt er sei, von welcher Farbe, was er am liebsten esse, und wann er ihn morgen früh sehen dürfe.
»Wie wird Herzlieb sich freuen!« rief er dazwischen immer wieder. »Sie wird dir auch so dankbar sein! Sie weiß ja, wie gern ich Ponies habe, aber daß ich je 'mal einen eigen haben würde, daran hat keins von uns gedacht. In der Fifth Avenue wohnte ein Junge, der hatte einen, und da haben wir oft einen Umweg gemacht, um ihn reiten zu sehen.«
Fast müde vom Fragen und Reden lehnte er in die Kissen zurück und sah ein paar Minuten lang den Grafen ganz verklärt an, ohne ein Wort zu sagen.
»Ich glaube, daß es auf der ganzen Welt niemand gibt, der so gut wäre, wie du,« kam es endlich aus Herzensgrunde. »Du thust immerfort und immer nur Gutes. Herzlieb sagt, an andre denken und nicht an sich, das sei die wahre Güte, und das thust du!«
Seine Herrlichkeit schwieg – diese Charakteristik war geeignet, ihn schwindeln zu machen! Dabei waren die klaren, großen, unschuldigen Kinderaugen mit dem Ausdruck schrankenloser Bewunderung auf ihn geheftet – das hatte etwas Verwirrendes, sogar für diesen ziemlich abgehärteten Mann!
»So viele Menschen machst du glücklich!« fuhr Cedrik fort. »Michael, Bridget und ihre zwölf Kinder, und die Apfelfrau, und Dick, und Mr. Hobbs, und Mr. Higgins und seine Frau und ihre Kinder, und Mr. Mordaunt, und Herzlieb und mich – ich hab's an den Fingern gezählt: Siebenundzwanzig! Weißt du,« setzte er dann zögernd hinzu, »daß Leute, die keine Grafen kennen, sich manchmal sehr täuschen? Mr. Hobbs hat sich getäuscht, aber ich werde ihm schreiben und ihm alles von dir erzählen.«
»Nun, was war denn Mr. Hobbs' Ansicht über Grafen im allgemeinen und besondern?« fragte der alte Herr.
»Ja, siehst du, die Geschichte war eben die, daß er nie einen lebendig gesehen hatte, sondern nur in Büchern von ihnen gelesen, und deshalb hat er geglaubt – du mußt dir nichts daraus machen, bitte! – sie seien blutbefleckte Tyrannen, und hat gesagt, er möchte keinen in seinem Laden herumlungern haben. Aber wenn er dich kennen würde, dann wär' er wohl andrer Meinung. Ich werd's ihm aber schreiben!«
»Was wirst du ihm schreiben?«
»Daß du der beste, gütigste Mann bist, von dem ich je gehört, und daß du immer an andre denkst, und daß ich, wenn ich einmal groß bin, gerade so werden möchte wie du!«
»Wie ich?« wiederholte der Graf mit einem Blick in das leuchtende Kindergesicht –- dann wandte er sich rasch ab und sah zum Fenster hinaus nach den Buchen, deren lichtgrüne Blätter im Sonnenlicht erglänzten.
»Ja, wie du!« versicherte Fauntleroy, und setzte bescheiden hinzu: »Das heißt, wenn ich kann. Vielleicht kann ich nie so gut werden, aber versuchen will ich's.«
Der Wagen rollte weiter und Cedrik sah wieder die herrlichen Bäume und die grünen Farne, und die Rebhühner und Kaninchen, und alles kam ihm noch weit schöner vor, als das erste Mal, und sein kleines Herz war voll lauterer, großer Glückseligkeit. Auch der Graf blickte hinaus in die herrliche Welt, die ihn umgab, aber sein Gemüt war unempfindlich für all die Schönheit. Was er vor Augen hatte, war ein langes Leben, ein Leben ohne ideale Ziele und gute Gedanken; er sah sich selbst als jungen, kräftigen Mann, der diese Kraft und die Macht, die in seiner Hand lag, nur für seine Launen vergeudete, und dessen einziger Lebenszweck es war, die Zeit totzuschlagen, und dann sah er diesen Mann alt, einsam, ohne einen einzigen Freund inmitten all seiner Pracht und Herrlichkeit, umgeben von Menschen, die ihn haßten oder fürchteten, die ihm schmeichelten oder vor ihm krochen, aber ohne einen einzigen, dem etwas an seinem Leben oder Sterben gelegen hätte. Und er wußte, daß in all den Häusern und Hütten um ihn her wohl mancher ihm sein Geld und Gut neidete, nicht einer aber den Herrn über all diese Schätze hätte »gut« nennen oder gar wünschen mögen, zu sein wie er – keiner außer diesem Kinde.
Es waren das keine besonders erfreulichen Betrachtungen, auch nicht für den cynischen, harten Mann, der sich nie um eines Menschen Urteil gekümmert und der sich solcher Gedanken noch immer hatte entschlagen können, bis dies Kind durch seinen Entschluß, seinem Beispiel nachzueifern, ihm die Frage aufgedrängt hatte, ob ein Mensch wohl daran thue, ihn zum Vorbilde zu nehmen.
Fauntleroy sah, wie die Augenbrauen des Großvaters sich immer finsterer zusammenzogen, während er auf den sonnenbeschienenen Park hinausblickte, und er nahm an, daß jenen sein Bein schmerze. Rücksichtsvoll und bescheiden verhielt er sich still und freute sich an allem, was er sah, ohne seine Bewunderung mitzuteilen. Schließlich aber fuhr der Wagen an Court Lodge vor, und Cedrik war mit einem Satze draußen, noch ehe Thomas Zeit gehabt, den Schlag regelrecht zu öffnen.
»Schon da?« fragte der Graf, aus seinem Brüten auffahrend.
»Ja freilich,« erwiderte Cedrik. »Ich will dir deinen Stock geben und dann stütze dich nur fest auf mich.«
»Ich steige nicht aus,« erklärte Mylord kurz und hart.
»Du – du kommst nicht zu Herzlieb?« rief Fauntleroy sehr erstaunt.
»Herzlieb wird mich entschuldigen,« versetzte der Graf trocken. »Geh nur zu ihr und erzähl ihr, daß du nicht einmal durch einen eignen Pony von deinem Besuche abzuhalten warst.«
»Ja, das wird ihr aber sehr leid sein! Sie hat sich so auf dich gefreut!«
»Schwerlich,« war die Antwort. »Ich nehme dich auf dem Rückwege wieder mit. Weiter, Thomas.«
Der Wagen ward zugemacht; einen bestürzten, fragenden Blick warf Cedrik noch auf den Großvater, dann hatte dieser, wie einst Mr. Havisham, Gelegenheit, die flinken Beine zu bewundern, mit denen der Kleine auf das Haus zulief, m dessen Thür eine schlanke jugendliche Gestalt ihn in ihren Armen auffing und innig an sich drückte.
Siebentes Kapitel.
In der Kirche
Am Sonntag darauf fand Mr. Mordaunt seine Gemeinde so zahlreich versammelt, wie nie zuvor, und entdeckte manches Gesicht, das er sonst selten in der Kirche sah, darunter sogar Leute aus dem nächsten Dorfe. Die Frau des Arztes war da mit ihren vier Töchtern und Mr. und Mrs. Kimsey, der Apotheker mit Gattin, saßen in ihrem Kirchenstuhle. Mrs. Dibble, die wohlunterrichtete fehlte nicht, und Miß Smiff, die dörfliche Kleiderkünstlerin, samt ihrer Freundin Miß Perkins, der Putzmacherin, hatte sich eingefunden, und jede Familie war allermindestens durch ein Glied vertreten.
Kein Wunder! Mrs. Dibbles Laden war ja die ganze Woche kaum leer geworden, die kleine, schüchterne Ladenglocke hatte sich fast die Schwindsucht an den Hals gebimmelt, und der Absatz an Nähnadeln und Faden war ein ungemein erfreulicher gewesen – alles, weil Mrs. Dibble so unerhörte Dinge vom Schlosse und seinem neuesten Bewohner zu erzählen wußte. Sie konnte haarklein beschreiben, wie die Zimmer Seiner kleinen Herrlichkeit eingerichtet waren; was die wundervollen Spielsachen gekostet hatten, wußte sie auch, und die Lebensgeschichte des braunen Pony und des dazu gehörigen kleinen Groom war ihr ebenfalls geläufig. Natürlich war der weibliche Teil der Dienerschaft vollkommen einig darüber, daß es ein Verbrechen sei, den hübschen kleinen Kerl von seiner Mutter zu trennen, und samt und sonders hatten sie »an allen Gliedern gezittert«, als das Kind so mutterseelenallein in die Löwenhöhle, respektive Bibliothek, hatte geführt werden müssen, da doch kein Mensch wissen konnte, wie er dort behandelt werden würde.
»Aber