»Der wird wohl auch zu Grunde gerichtet werden,« sagte sie zu ihrem Manne, »so gut wie die andern, es müßte denn sein, daß die Mutter energisch und gescheit genug wäre, dem Alten das Gegengewicht zu halten.«
Als sie nun vollends erfuhr, daß diese Mutter gar nicht bei ihrem Kinde sein durfte, fand sie gar keine Worte mehr für ihre Entrüstung.
»Das ist doch himmelschreiend, Harry,« sagte sie. »Stell dir doch vor, ein Kind in dem Alter von der Mutter weg und zu einem Manne wie mein Bruder. Entweder wird er barbarisch roh behandelt oder verwöhnt, daß sein Lebtag nichts Ordentliches mehr aus ihm werden kann. Wenn ich denken könnte, daß ein Brief etwas nutzen würde, so –«
»Das wäre sicher nicht der Fall, Constantia,« bemerkte Sir Harry.
»Freilich nicht, dafür kennen wir Seine Herrlichkeit! Aber ganz und gar abscheulich ist's.«
Nicht nur bei den Pächtern des Grafen war viel von dem neuen Lord Fauntleroy die Rede, sondern der Ruf seiner Schönheit, Gutherzigkeit und seines zunehmenden Einflusses auf den Großvater drang bald in weitere Kreise, und nach kurzer Zeit verbreiteten sich die kleinen Geschichten und Anekdötchen von ihm in den Landsitzen der englischen Aristokratie. Bei Diners gab er nicht selten das Gesprächsthema ab; die Damen ergingen sich in mitleidigen Betrachtungen über das Schicksal der jungen Mutter und hätten gar zu gern gewußt, ob der Knabe wirklich so hübsch sei, wie behauptet wurde, und wer den Grafen und seine Vergangenheit kannte, lachte herzlich über des kleinen Burschen treuherzigen Glauben an seines Großvaters Güte und Liebenswürdigkeit. Sir Thomas Asshe war zufällig einmal in Erleboro gewesen und war Großvater und Enkel zu Pferde begegnet und hatte ersteren flüchtig begrüßt und ihn zu seinem guten Aussehen und der Ruhepause in seiner Gicht beglückwünscht. »Wie ein Truthahn hat sich der alte Sünder aufgebläht,« erzählte er nachher, »und zu verwundern ist es nicht, denn einen hübscheren Jungen als den amerikanischen Enkel habe ich wahrhaftig nie gesehen! Und auf seinem Pony saß das Kerlchen, stramm und sicher, wie ein kleiner Husar!«
So hatte natürlich auch Lady Lorridaile vielerlei von dem Knaben gehört und die Geschichten von Higgins, dem lahmen Kinde, dem Neubau von Grafenhof und viele andre riefen in ihr den lebhaften Wunsch hervor, ihn kennen zu lernen. Während sie im stillen ihre Pläne schmiedete, wie dies zu bewerkstelligen sei, traf zu ihrer unsäglichen Ueberraschung eine eigenhändige Einladung des Grafen für sie und ihren Gemahl ein.
»Unerhört! Unglaublich!« rief sie ein über's andre Mal. »Nun ist kein Zweifel mehr, daß der Junge Wunder wirkt; es heißt ja, mein Bruder vergöttere ihn und lasse ihn nicht mehr aus den Augen. Und stolz und eitel sei er auf ihn – wahrhaftig, ich glaube, er will ihn uns nur zeigen.«
Angenommen wurde die Einladung und kurze Zeit darauf trafen Sir Harry und seine Frau eines Nachmittags in Schloß Dorincourt ein. Es war schon ziemlich spät und sie zogen sich, noch ehe sie den Hausherrn begrüßt hatten, auf ihre Zimmer zurück, um Toilette zum Diner zu machen. Als sie nachher den Salon betraten, stand der Graf in seiner imponierenden Größe am Kamin und neben ihm ein kleiner Junge mit einem großen van Dyck-Kragen, welcher der neuen Tante aus einem Paar so ehrlicher brauner Augen ins Gesicht sah, daß sie kaum einen Ausruf freudiger Ueberraschung unterdrücken konnte.
Als sie ihrem Bruder die Hand schüttelte, kam ihr unwillkürlich sein Vorname auf die Lippen, mit dem sie ihn seit Kindeszeiten nicht mehr angeredet hatte.
»Wie, Molyneux,« sagte sie, »ist das der Junge?«
»Gewiß, Constantia,« erwiderte ihr Bruder, »Fauntleroy, dies ist deine Großtante, Lady Lorridaile.«
»Wie geht es dir, Großtante?« sagte Fauntleroy.
Sie legte die Hand auf seine Schulter, und nachdem sie einen Augenblick in das ihr zugewandte süße Gesicht geblickt hatte, küßte sie ihn herzlich.
»Ich habe deinen armen Papa sehr lieb gehabt, und du siehst ihm ähnlich,« sagte sie bewegt. »Nenne du mich nur Tante – Tante Constantia.«
»Das freut mich, wenn man mir das sagt, denn es scheint, daß jedermann meinen Papa lieb gehabt hat, ganz wie Herzlieb auch – Tante Constantia,« setzte er nach einer kleinen Pause nicht ohne Anstrengung hinzu.
Lady Lorridaile war entzückt. Sie beugte sich noch einmal über ihn, um ihn zu küssen, und die Freundschaft war geschlossen.
»Nun, Molyneux,« sagte sie später zu dem Grafen, »besser hatte die Sache nicht ausfallen können.
»Das meine ich auch,« bemerkte ihr Bruder trocken. »Es ist ein hübscher kleiner Kerl, und wir sind sehr gute Freunde. Mich halt er für den sanftmütigsten, liebenswürdigsten Philanthropen der Welt. Da du es doch herauskriegen würdest, Constantia, will ich dir's lieber gleich sagen: Der Junge kann mich alten Narren um den Finger wickeln.«
»Und was hält seine Mutter von dir?« fragte Lady Lorridaile mit ihrer gewohnten Unverblümtheit.
»Das habe ich sie nicht gefragt,« versetzte der Graf mürrisch.
»Höre, Bruder,« fuhr Lady Lorridaile fort, »ich will von vornherein offen und ehrlich zu Werke gehen und dir nicht vorenthalten, daß ich deine Handlungsweise ganz und gar mißbillige und fest entschlossen bin, Mrs. Errol meinen Besuch zu machen. Wenn du deshalb Streit mit mir anfangen willst, so sprich dich lieber jetzt gleich aus. Alles, was ich von dem jungen Frauchen höre, berechtigt mich zu der Annahme, daß sie den Jungen zu dem gemacht hat, was er ist; sogar deine Pächtersleute sollen sie ja verehren wie eine Heilige.«
»Sie vergöttern Cedrik,« sagte der Graf. »Was Mrs. Errol betrifft, so wirst du eine recht hübsche kleine Frau kennen lernen, und ich bin ihr eigentlich zu Dank verpflichtet, daß sie dem Jungen so viel von ihrer Schönheit abgegeben hat. Mit deinen Besuchen kannst du es nach Belieben halten, nur bitte ich mir aus, daß sie ruhig in Court Lodge bleibt, und daß du nicht etwa von mir verlangst, daß ich sie besuche.«
»So schlimm ist es lange nicht mehr mit seinem Hasse,« äußerte sich Lady Lorridaile nachher gegen ihren Gatten, »er ist überhaupt auf dem Wege, ein andrer Mensch zu werden, und, unglaublich aber wahr, er kann zu guter Letzt noch ein Herz bekommen, alles durch seine Zuneigung für den unschuldigen, goldigen kleinen Burschen. Das Kind hat ihn ja wirklich und wahrhaftig lieb. Er lehnt sich an sein Knie, wenn er mit ihm spricht; Mylords eigne Kinder hätten sich eher bei einem Tiger niedergelassen.«
»Molyneux, sie ist die bezauberndste, anmutigste Frau, die ich je gesehen habe,« erklärte Lady Lorridaile ihrem Bruder, als sie am nächsten Tage von ihrem Besuche bei Mrs. Errol zurückkam. »Ihre Stimme ist wie ein silbernes Glöckchen, und du dankst ihr alles, was du an dem Jungen hast, durchaus nicht nur die Schönheit. Dein größter Mißgriff ist, daß du sie nicht herzlich bittest, bei dir zu wohnen und für dich zu sorgen. Uebrigens lade ich sie nach Lorridaile ein.«
»Sie trennt sich nicht so weit von dem Kinde,« bemerkte der Graf.
»Dann muß der auch mitkommen,« erklärte Lady Lorridaile lachend.
Sie wußte sehr wohl, daß letzteres nicht zu erreichen gewesen wäre. Mit jedem Tage sah sie mehr und mehr, wie fest Großvater und Enkel aneinander hingen und wie alles, was der rauhe alte Mann an Ehrgeiz, Hoffnung und Herzenswärme besaß, sich auf das Kind konzentrierte, dessen liebevolle, reine Seele diese Liebe vertrauensvoll und selbstverständlich erwiderte.
Sie wußte auch, daß die eigentliche Veranlassung, in Schloß Dorincourt nach Jahren der Einsamkeit wieder eine große Gesellschaft zu geben, keine andre war, als das Verlangen, der Welt den Enkel und Erben zu zeigen und sie zu überzeugen, daß der Junge, von dem so viel gesprochen und gefabelt wurde, alle