Harro stand immer noch am Fenster. Sie sagte: »Harro, du hast eine gute Frau ..., die muß der Himmel für dich herausgesucht haben, gerade weil sie so weich ist. Hart trifft bei dir immer wieder auf hart...«
Aber er gab darauf keine Antwort, sondern schlenderte langsam in den Garten, wo der Rasen voll abgewehter Rosenblätter lag. Düster hing der späte Nachmittag über dem Thorstein, ein leises fernes Murren ließ sich hören, und zuweilen vergoldete ein ferner Blitz das graue Wolkengeschiebe.
Rosmarie hatte selbst nicht mehr nach ihrem Manne verlangt. Nur Tante Ulrike saß wieder bei ihr, als der frische Abend einbrach. Nun wehte kein Lüftchen mehr, kein Baumrauschen, nur der Brunnen erklang im Hofe. Das Licht glühte auf im Vogel Rock, alle Fenster standen weit offen, und doch war nirgends nur das leiseste Bewegen in den Vorhänge. Und nun kam das Knurren näher und näher, wie wenn die Burg auf dem Berge umlagert wäre von drohenden Ungeheuern, und überall an den Horizontlinien liefen glühende Fäden hin und her, zerrissen dort die Finsternis auf eine Sekunde und grenzten hier eine dunkle Hügelwelle, dort einen Waldrücken gegen den Himmel ab.
Tante Ulrike saß ängstlich neben dem Kinde. Der Herr Hofrat war schon dagewesen, hatte Rosmaries matte Erregtheit auf die schwüle Luft geschoben, und es war ihr doch ein gewisser Ernst des Mannes nicht entgangen. Rosmarie hat seit jener Nacht nie mehr ein Wort über ihre Krankheit gesprochen, als wären jene Worte nie gefallen, so war es zwischen ihnen. Nein, nein, das Kind würde eine lange schlimme Zeit haben, aber es ist ja zwei- oder dreiundzwanzig Jahre alt. Nein, das alte Herz, das sich noch einmal einer so innigen Liebe geöffnet hat, hält ihn fest, den köstlichen Besitz, das Wunderkleinod. Rosmarie hat ja nie eine Mutter gehabt und dieses selbstverständliche Verlangen und Hinnehmen gekannt, denn das köstlichste Teil der Liebe zur Mutter ist, daß man immer gibt, wenn man nimmt. Rosmarie ruhte. Jede Berührung ihrer Hand war wie eine süße Wohltat für Tante Uli, die für jedes Lächeln dankbar war. Und wenn sie litt, so brauchte sie es vor der alten Dame nicht zu verbergen. Die wußte es ja doch und sie stand so tapfer dabei. Sie ließ nie merken, daß es ihr selbst das Herz zerschnitt. Und doch konnte Rosmarie sie keine Sekunde für gefühllos halten. Und sie war immer ein wenig heiter mit ihren trockenen kleinen Redensarten, und ihre Hände waren weich und stark, und jede Berührung tat wohl. Sie war eine Mutter. In ihren alten Tagen war sie es geworden. Sie war eine große Menschenkennerin, die Tante Uli, und pflegte mit Stolz von sich zu sagen, sie habe sich noch nie im Leben in einem Menschen getäuscht, sondern jedem sofort an der Nase angesehen, was er wert sei. Und Rosmarie hatte ihr vom allerersten Anblick bei ihrer Hochzeit das Herz abgewonnen. Freilich hatte sie damals nur an mehr oberflächliche Beziehungen gedacht und gemeint, die junge Prinzessin werde wohl kein so ausgeprägtes Bedürfnis nach alten Tanten haben. Und nun war es doch so gekommen.
Ach, und heute litt ihr Mutterherz... Es war, als gäbe es ihr jede Sekunde neben dem weißen Bett deutlicher ein: wir haben umsonst gehofft... So unruhig und so matt ist das Kind. Ihr weißes Gesicht ist ganz umflutet von den goldenen Haarwellen, so wirft sie sich hin und her, und ihre Hände auf der dünnen blauseidenen Steppdecke halten keinen Augenblick still.
Und jetzt kommt Leben in die Vorhänge, ein leises Wehen, dann ein Stoß, daß sie emporflattern. Rosmarie zittert schon vor Kälte, ehe Tante Uli nur geschwind alle Fenster schließen kann. Und dann wirft sich der Sturm herein, und alle Ungeheuer, die um die Burg gelagert sind, öffnen ihre Feuerschlünde.
Rosmarie fährt zusammen. »O Tante Ulrike, war denn je ein solches entsetzliches Gewitter? Ich habe mich doch nie gefürchtet. Hast du je einen solchen Donner gehört? Mach die Vorhänge zu: ich kann die Blitze nicht sehen ... Ach, das große Licht... Liebste.«
Ein Heulen. Brausen und Toben ist in der Luft, und wie kurze Kanonenschläge kracht der Donner. Und jedesmal, wenn ein Schlag fällt, erzittert Rosmaries ganzer Körper, und ihre Hände verkrampfen sich an den Kissen. Das goldene Licht der Krone selbst kann die grellen Blitze nicht verdecken.
»O Tante Uli, sieh nach dem Kinde!« stöhnt sie.
»Ich kann dich jetzt nicht verlassen, mein armes Herzblatt. Harro ist bei ihm. Ich sehe sein Licht nicht mehr, er ist gewiß oben...« Ein neuer Schlag, da geht die Tür auf und Harro kommt herein.
»Ich habe geklopft, ihr hörtet mich nicht. Ich wollte sehen, ob Rosmarie sich nicht aufregt.«
Tante Ulrikes Gestalt hatte ihm seine Frau verdeckt. Nun drehte sie sich um, und Harro beugt sich über sie. Einen Augenblick nur, dann sagte er: »Gott steh mir bei...« und wieder ein Schlag, und wieder rann das Zittern durch ihre Glieder, als hämmere der Schlag auf ihr armes Herz.
»Harro,« stöhnte sie, »hilf mir, so hilf mir doch! Warum kommt der Donner auf mich?«
»Nimm sie auf deinen Arm, Harro!« flüsterte ihm die alte Dame zu. »Ich will dir helfen. Wie es der Professor damals getan hat.«
Er hielt sie in seinem Arm, das aufgelöste blasse Gold ihrer Haarwellen strömte über seine Schulter und er fühlte das harte unruhige Stoßen ihres Herzens. Noch ein schweres verhallendes Rollen und draußen strömten die Wasserfluten.
»Danke dir.« flüsterte sie, als ob er den Winden gebieten könne. »Heinz?«
»Er schläft, Rose. Er ist nicht einmal aufgewacht.«
»Ich bin so dankbar, daß du gekommen bist. Harro. O Harro, Lieber, warum war denn der Donner im Zimmer? Er rollte über mich hinweg wie ein schwerer Wagen.«
Harro gab ihr keine Antwort, nur Tante Ulrike tröstete. »Du hast es mehr gefühlt, weil du krank bist, mein Herzblatt.«
»Ja, ich bin sehr krank, heute bin ich sehr krank, oh, mein armer Harro! Und den ganzen Tag schon war ich krank, und sie ließen dich nicht zu mir. Und ich wollte dich doch trösten, Harro... Aber ich war zu müde dazu. Halt mich doch in deinem lieben Arm... nun regnet's auf meine Lilien, meine armen, und der Sturm zerknickt sie, Harro!«
»Ja, er zerknickt sie,« sagte er leise.
»Nicht alle, Herzenskind,« tröstete Tante Ulrike. Harro beugte sich sanft über Rosmarie herab und küßte den blassen Mund, da ging die alte Dame leise hinaus.
Draußen strömte der Regen eine herrliche duftende Kühle, und der Atem vieler Rosen zog durch den Raum. »Harro,« sie sprach so leise, »sie sagten, du seist so traurig ... warum kommst du nicht zu mir?«
»Sie ließen mich nicht... ich könnte dir schaden, sagen sie. Aber es ist nicht wahr. Habe ich dir nicht heute den schlimmen Donner verjagt?«
»Wie du kamst, war's besser... Warum läßt du mich deine Augen nicht sehen, Harro? Immer siehst du hinweg. O Harro, du weinst.«
»Nein,« lügt er, »es ist das Licht.«
»Ach, nicht weinen, du mußt mir helfen, Harro. Du siehst doch, daß ich kämpfe. Immerfort kämpfe ich. Für dich, Harro, um mein armes Leben. Wärst du nicht gekommen, ich hätte das Rollen und Stoßen auf mir nicht mehr ertragen. Und ich darf dich doch nicht allein lassen, Harro.«
»Wie kann ich dir kämpfen helfen, Seele... wie kann ich's denn?«
»Ach, weiß ich das... du sollst bei mir sein, du sollst mich nicht so viel allein lassen. Die Quelle, nun ist sie ein Bächlein geworden – es rauscht so stark, und wie die Sternblumen duften.«
»Ich lasse dich nicht mehr allein. Ich stehe jetzt bei dir. Nein, auf fremde Quellen sollst du nicht hören. Es ist unser lieber alter Brunnen, der rauscht. Ach, was für kostbare Stunden ließen wir uns nehmen, und du hast deinen armen Harro vor deiner Tür vor Warten fast vergehen lassen! Nun machen wir es, wie wir es wollen. Sie haben dir nicht gut getan mit ihrer Ruhe. Ich bringe dich wieder in den Wald. Unter dem Kastanienbaum kannst du auch schön still liegen, und die Tannen rauschen dich in den Schlaf. Und die Rehe kommen ganz dicht heran, und es fällt im ganzen Walde kein einziger Schuß. Den ganzen Tag rufen die Waldtauben. Und nachts spinnen die weißen Nebel. Silberne Gewänder spinnen sie, und morgens ist alles mit Diamanten bestickt.