Thor hingegen hatte schon immer ein einsames und wunderliches Leben geführt. Es schien, als hatte er sich mit den Jahren mehr und mehr von der Gesellschaft abgekapselt. Er wusste, dass es nach wie vor Anhänger gab; Fans von Wooden Dark, aber die waren ihm in der momentanen Lage nicht von Nutzen.
Die Auflage – etwas Gemeinnütziges auf die Beine zu stellen und in der Bevölkerung Fuß zu fassen – musste er allein bewältigen.
Bei der Errichtung des Cafés mit integrierter Galerie konnte ihm kein Fan helfen. Bei der Mission, den blutbefleckten Namen Thor Fahlstrøm zu einem Begriff zu machen, den die Menschen nicht mehr fürchten mussten, war sein Ansehen in der Black Metal-Szene nicht von Bedeutung.
Letztendlich musste er den Weg allein bestreiten – wie so oft. Thor trug sein Leid still und beherrscht, ohne zu klagen. Nur durch seine Anwesenheit konnte Dylan symbolisieren, dass er Freunde an seiner Seite hatte, die an ihn glaubten; dass jemand da war, der ihn liebte und in jeder Lebenslage unterstützte.
Dylan blickte durch den Raum. Die Bettwäsche war schlicht, die Wände kahl, der Schreibtisch antik und der Computer veraltet. Thor hatte sich nie etwas aus der modernen Welt gemacht und das spiegelte sich in der Einrichtung des Hauses wider. Auf der Ablage stapelten sich ungeöffnete Briefe. Lediglich das Handy war neu, doch das war Thor aufgedrängt worden. Samt Fußfessel musste er es bei sich tragen, damit er kontrollierbar war.
Auch diese Tatsache musste an seinem Gemüt zerren wie ein unbändiger Orkan. Eigentlich konnte Dylan froh sein, dass sein Partner den Frust nicht offen auslebte. Doch war es förderlich, den Ballast in sich hineinzufressen? Zu schweigen, anstatt zu brüllen, so wie Dylan es getan hätte?
Sein Blick heftete sich auf ein vergilbtes Telefonbuch. Ob die enthaltenen Nummern aktuell waren?
Er griff danach, denn zu verlieren hatte er nichts. Im Erdgeschoss setzte er sich auf das Sofa und blätterte darin herum. Es musste doch eine Firma geben, der es egal war, was die Leute tratschten? Irgendwo musste jemand sein, der helfen konnte, oder?
Bei den ersten zwei Firmen, die er anrief, sprang ein Anrufbeantworter an. Es war später Nachmittag und niemand zu erreichen. In Norwegen machten die Menschen zeitig Feierabend, das hatte er inzwischen begriffen. Und vermutlich hatte Erik schon sämtliche Handwerker der Umgebung abgeklappert. Trotzdem ließ ihm der Zustand keine Ruhe. Es war bedrückend genug, dass Thor ihm verbot, bei den Renovierungsarbeiten zu helfen. Ohne Zweifel hatte er zwei linke Hände; auch machte er gern einen Bogen um körperliche Arbeit und Dreck, aber hatte er bei ihrer Reise durch Amerika nicht bewiesen, dass er gewillt war, zu lernen?
Ein Polizeiwagen fuhr vor und Dylan unterbrach das Studieren der Telefonbucheinträge. Arvid kam auf das Haus zu, gemächlich und mit ernstem Blick. In der dunklen Polizeiuniform machte er eine gute Figur und die sommerlichen Temperaturen hatten einen bräunlichen Teint in sein Gesicht gezaubert, in dem der grau melierte 3-Tage-Bart dominierte.
Dylan öffnete und hob eine Hand zum Gruß. «Hei!»
Arvid nickte ihm zu und blieb auf der Schwelle stehen. «Wie läuft es?»
«Ganz gut, denke ich.»
«Es gibt keine Probleme? Thor fährt morgens in die Stadt und abends zurück?», fügte Arvid fragend hinzu.
Dylan bestätigte es. «Das funktioniert. Keine Umwege, wie abgemacht.»
«Gut.» Arvid sah an ihm vorbei. «Er hat einen Antrag gestellt für die Teilnahme von Wooden Dark bei einem Festival. Vermutlich klappt das, wenn er sich strikt an die Abmachungen hält.»
«Das wird er, bestimmt.»
Arvid rieb sich den Bart. «Finanziell sieht es übel aus …» Es klang wie eine Frage anstatt einer Feststellung.
Notgedrungen musste Dylan nicken. «Die Renovierung kostet. Und das Strafgeld war heftig …»
«Das hat er sich selbst zuzuschreiben.»
«Klar, aber …»
«Hat er inzwischen mit der Bewährungshelferin gesprochen?», wollte Arvid wissen.
Dylan schüttelte den Kopf. «Nein, aber ich bin am Vermitteln.»
«Ohne vernünftiges Gutachten sieht seine Zukunft düster aus», erklärte der Bruder von Thor; und das nicht zum ersten Mal.
«Das weiß ich», zischte Dylan. Er wand sich. «Doch du kennst ihn ja. Es ist verdammt schwer, ihn von seiner Meinung abzubringen … Und dann der Ärger mit dem Café!» Er biss sich auf die Unterlippe.
«Habt ihr noch immer keine Handwerker gefunden?», erkundigte sich Arvid.
«Nein – und die Osloer Bevölkerung trägt auch nicht viel dazu bei, dass sich das ändert.»
«Habt ihr es schon bei Lasse Bjørnson versucht? Der vermittelt Leiharbeiter.»
Dylan hob die Schultern an. «Keine Ahnung. Erik hat rumtelefoniert und ich kenne hier niemanden.» Er stutzte. «Obwohl, Bjørnson? Hat der etwas mit Fay Bjørnson zu tun?»
«Möglich, dass sie in der Firma hilft. Soll ich dir die Nummer raussuchen?»
Dylan winkte ab. «Hab ein Telefonbuch hier und zur Not Internet.» Die Sachlage schien geklärt und trotzdem lag eine eigenartige Stimmung in der Luft. «Danke, dass du mal nach dem Rechten guckst», fügte er abschließend hinzu.
Arvid lächelte schief. «Als ob ich das zu meinem Vergnügen mache.»
«Er ist dein Bruder …»
«Ja, und gerade deswegen möchte ich, dass er nicht wieder Scheiße baut!» Arvid wurde laut. «Wir hängen da alle mit drinnen und ich will, dass die Sache ein für alle Mal vorbei ist und Ruhe einkehrt!»
«Denkst du, ich will das nicht?», erwiderte Dylan ebenso aufgebracht.
«Dann sorg dafür, dass er sich am Riemen reißt und endlich zur Vernunft kommt!»
«Du weißt, dass das nicht einfach ist!»
Arvid zog die Notbremse. Vielleicht war er ähnliche Dialoge gewohnt und er ließ sich von der aufgestauten Wut nicht mitreißen. Zudem ging ein Funkspruch ein und hinderte ihn daran, etwas zu erwidern. Er drehte sich weg, bediente das Funkgerät, das zuvor an seiner Diensthose geklemmt hatte und führte ein knappes Gespräch in Norwegisch. «Ein Einsatz», erklärte er. «Wir sehen uns!» Schnellen Schrittes begab er sich zum Polizeiwagen und brauste davon.
«Was war los?», tönte es plötzlich. Thor war lautlos herangetreten und spähte hinaus.
«Ach nichts … Arvid wollte nur gucken, ob alles okay ist», erwiderte Dylan. Sorgsam betrachtete er seinen Partner. Thor sah müde aus, obwohl er mittlerweile geduscht hatte. Sein Gesichtsausdruck glich der einer starren Maske.
«Der soll sich um seinen eigenen Mist kümmern», knurrte er verbissen. Mit groben Bewegungen schenkte er sich Kaffee ein und begab sich ins Wohnzimmer, wo er sich auf die Couch setzte.
Dylan folgte. Kommentarlos klappte er das Telefonbuch zu. Es war besser, Thor nicht zu sagen, dass er ungefragt nach Hilfe suchte. Umständlich stopfte er das dicke Verzeichnis unter die Ablage des hölzernen Tischs, der mit Papieren und Gegenständen vollgemüllt war. Eigentlich war Thor ein ordentlicher Mensch, doch wenn es um Briefverkehr und Formalitäten ging, zeigte sich seine Abneigung darin, dass er etwaige Schriften ignorierte. Zudem war er tagsüber mit der Renovierung der Kneipe beschäftigt. Aufräumarbeiten blieben unerledigt. Das starre Gerüst, das im Hause Fahlstrøm geherrscht hatte, geriet mehr und mehr ins Wanken.
«Du könntest mal aufräumen», zeterte Dylan demzufolge. Anstatt das Telefonbuch erfolgreich zwischen den Utensilien verschwinden zu lassen, quoll ihm ein störender Stapel postwendend entgegen. Zettel, Briefe und Zeitschriften rutschten ihm durch die Finger, dazwischen Zigarettenschachteln, Feuerzeuge und Kugelschreiber. «Shit», fluchte er und ließ alles auf den Boden gleiten.
«Das