Die silbernen Schlangen (Bd. 2). Roshani Chokshi. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Roshani Chokshi
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9783038801276
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ein Künstler aus ihm.

      »Lieben Sie ihn?«, fragte Kahina weiter.

      »Wie bitte?«

      »Lieben Sie meinen Sohn?«

      Meinen Sohn. Die Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Die Matriarchin konnte mit Séverin ins Theater gehen und ihn mit Geschenken überhäufen, so viel sie wollte – er gehörte nicht zu ihr. Für ihr Herz machte das jedoch keinen Unterschied.

      »Ja«, antwortete sie.

      Kahina nickte. Sie schien sich für etwas zu wappnen. Schließlich sagte sie: »Wenn das so ist … bitte … versprechen Sie mir, ihn zu beschützen.«

      Teil I

      Aus den Archiven des Ordens von Babel

       Großmeister Boris Gorjunow, Haus Dažbog der russischen Fraktion

       Im Jahre 1871, unter der Herrschaft des Zaren Alexander II.

      Am heutigen Tage nahm ich meine Männer mit zum Baikalsee. Wir warteten dort bis nach Einbruch der Dunkelheit. Die Soldaten waren nervös, sprachen von ruhelosen Geistern im Wasser, doch sie sind von schlichtem Gemüt und ließen sich vermutlich zu sehr von den Berichten über Mädchen beeindrucken, die panisch um ihr Leben schrien. Möglicherweise wurden die Einheimischen mittels Geistschmiedekunst in Angst und Schrecken versetzt. Ich stellte einige Nachforschungen an, fand jedoch nichts. Pflichtschuldig habe ich nun beim Orden Verstärkung angefordert, doch bezweifle ich, dass wir etwas entdecken werden. Persönlich vernahm ich keine Todesschreie junger Mädchen, was bedeutet, dass sie entweder niemals zu hören waren oder dass inzwischen jede Hilfe zu spät kommt.

      Séverin

      Noch zwei Wochen bis zur Winterversammlung …

      Séverin Montagnet-Alarie ließ den Blick über das Terrain schweifen, das einst der Garten der Sieben Sünden gewesen war. Seltene, namhafte Pflanzen hatten früher den Boden bedeckt: Aureum mit milchigen Blättern und Chrysanthemum parthenium von hellem Gelbgrün, knochenfarbene Hyazinthen und nachtblühende Fackeldisteln. Und doch waren es die Rosen gewesen, die sein Bruder Tristan am meisten geliebt hatte. Sie waren zuerst gepflanzt worden, und er hatte sie gehegt und gepflegt, bis sie mit ihren tiefroten Blütenblättern und dem betörenden Geruch aussahen und rochen wie der Inbegriff von Sünde.

      Jetzt, gegen Ende Dezember, wirkten die Gärten kahl und trostlos. Séverin atmete tief ein, beißende Kälte drang in seine Lunge.

      Der Wohlgeruch der Blumen war fast verflogen.

      Er hätte natürlich sein Faktotum bitten können, einen Gärtner mit einer Schmiedegabe für Pflanzen zu engagieren. Jemanden, der die Anlage wieder in ihrer ganzen Pracht erstrahlen ließ. Aber er wollte keinen Gärtner. Er wollte Tristan.

      Doch Tristan war tot und der Garten der Sieben Sünden war mit ihm gestorben.

      An seiner Stelle befanden sich dort nun Hunderte geschmiedeter Illusionsteiche. Die spiegelglatten Oberflächen zeigten Bilder von Wüstenlandschaften oder, sofern sich der Abend bereits über das Anwesen senkte, den Himmel bei Dämmerung. Die Gäste des L’Éden waren von dieser Kunstform äußerst angetan. Sie wussten nicht, dass es Séverins Reue war, die ihn dazu veranlasst hatte – nicht sein Sinn für Ästhetik. Wenn er in die Teiche blickte, wollte er nicht sein eigenes Gesicht darin reflektiert sehen.

      »Monsieur?«

      Séverin wandte sich um. Eine seiner Wachen kam auf ihn zu.

      »Ist alles vorbereitet?«, fragte er.

      »Ja, Monsieur. Wir haben den Raum exakt so hergerichtet, wie Sie es verlangt haben. Ihr … Gast … befindet sich nun im Dienstzimmer neben den Stallungen.«

      »Und haben wir auch Tee für unseren Gast?«

       »Oui.«

       »Très bien.«

      Séverin atmete tief ein und zog die Nase kraus. Sie hatten die Rosenstöcke an den Wurzeln herausgezogen, sie verbrannt und den Boden versalzen. Trotzdem nahm er jetzt, Monate später, immer noch den Phantomgeruch von Rosen wahr.

      SÉVERIN STEUERTE AUF ein kleines Gebäude in der Nähe der Pferdeställe zu. Er berührte das alte Taschenmesser von Tristan, das in seiner Sakkotasche steckte. Ganz gleich, wie oft er die Klinge auch säuberte, er bildete sich nach wie vor ein, die zarten Vogelfedern und Knochensplitter zu fühlen, die es vorher besudelt hatten. Erinnerungen an Tristans Gräueltaten. Der Beweis für seinen Hang zur Gewalt, den sein Bruder so sorgfältig vor ihnen verborgen hatte.

      Manchmal wünschte Séverin, er hätte es nie erfahren. Er hätte Laila nicht aufsuchen dürfen. Dabei hatte er sie doch nur von dem irrsinnigen Schwur entbinden wollen, mit dem sie sich selbst dazu zwang, ihn als Mätresse zur Winterversammlung zu begleiten.

      Aber er hatte sie nicht angetroffen. Stattdessen fand er Briefe an Tristan und daneben seine Gärtnertasche – von der Laila behauptet hatte, sie wäre verschwunden.

      Liebster Tristan, ich dachte, ich würde dir einen Gefallen damit tun, keine Gegenstände von dir zu lesen. Nun aber frage ich mich jeden Tag, ob ich die dunkle Seite in dir früher hätte bemerken können. Vielleicht hättest du dich dann nicht an den armen Vögelchen vergangen. Ich lese alles in der Klinge. Das Töten. Deine Tränen. Auch wenn ich dich nicht in jeder Hinsicht verstanden habe, so habe ich dich doch von Herzen lieb. Bitte vergib mir …

      Schon davor hatte Séverin gewusst, dass er sein Versprechen Tristan gegenüber nicht gehalten hatte: Er hatte nicht auf ihn aufgepasst. Doch erst anhand der Briefe erkannte er, wie sehr er tatsächlich versagt hatte. Danach dachte er fortwährend an seine Versäumnisse. Wenn Tristan geweint hatte, war er gegangen, um ihm seinen Freiraum zu lassen. Wenn Tristan wütend ins Gewächshaus gestürmt und tagelang nicht mehr herausgekommen war, hatte er ihn nicht gestört. Er hätte ihm nachlaufen müssen. Stattdessen hatte er ihn einfach seinen Dämonen überlassen.

      Beim Lesen der Briefe sah er nicht nur Tristan mit dem todesstarren Blick vor sich, sondern auch die Mienen der anderen, von Enrique, Zofia, Hypnos. Und von Laila. Den glanzlosen Ausdruck in ihren Augen, den der Tod dort hinterlassen hatte. Ein Tod, für den er verantwortlich war, weil er nicht auf sie aufgepasst hatte. Weil er nicht gewusst hatte, wie.

      Laila hatte ihn schließlich in ihrem Zimmer erwischt. Er erinnerte sich nicht an jedes einzelne ihrer Worte, aber an die letzten: »Du kannst nicht alle vor allem beschützen. Du bist auch nur ein Mensch, Séverin.«

      Er hatte die Augen geschlossen, die Hand schon auf dem Türknauf. Dann muss sich das ändern.

      SÉVERIN BETRACHTETE SICH als so etwas wie einen Künstler auf dem Gebiet des Verhörs.

      Es kam auf die Kleinigkeiten an und die mussten mehr nach Zufall als nach Kalkül aussehen. Der wackelige Stuhl. Der widerlich süße Blumenduft. Die zu Beginn dargereichten versalzenen Köstlichkeiten. Und das Licht. Es wurde von versteckten Glasscherben reflektiert und warf überall blendend helle Tupfer an Decke und Wände, sodass man nicht anders konnte, als seine Aufmerksamkeit auf den Holztisch zu richten, auf dem soeben warmer, duftender Tee serviert worden war.

      »Sitzen Sie bequem?«, fragte Séverin und nahm dem Mann gegenüber Platz.

      Der zuckte zusammen. »Ja.«

      Séverin lächelte und schenkte sich Tee ein. Der Mann vor ihm war dünn und blass und hatte einen gehetzten Ausdruck in den Augen. Er musterte den Tee misstrauisch. Séverin trank einen großen Schluck.

      »Darf ich Ihnen auch etwas anbieten?«

      Der Mann zögerte, dann nickte er.

      »Warum … warum bin ich hier? Sind Sie …« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Gehören Sie zum Orden von Babel?«

      »Gewissermaßen.«