Damals war ich siebzehn. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718452
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habe vor ein paar Tagen die Listen der polnischen Handelsmission eingesehen«, sagte Helga Gärtner. »Jan Mirsky …« Magdalenes schönes Gesicht war fleckig geworden. »Er ist hier?« Sie schrie es fast, sah sich dann erschrocken um. Aber niemand hatte ihren Aufschrei beachtet.

      »Nein, aber er kommt im Herbst. Das heißt, er soll kommen. Statt Dr. Mirnov. Ganz sicher ist das natürlich nicht. Diese Leute ändern ja ihre Pläne fortwährend. Aber ich dachte, du solltest es jedenfalls wissen.«

      Magdalene presste die Handflächen gegeneinander. »Jan Mirsky …«, wiederholte sie tonlos.

      »Du hast nie mehr etwas von ihm gehört?« fragte Helga Gärtner behutsam.

      Magdalene schüttelte stumm den Kopf. Sie hatte ihre Lippen fest geschlossen.

      »Er hat sich wie ein Schuft benommen«, sagte Helga Gärtner hart.

      Jetzt endlich sprach Magdalene wieder. »Das habe ich damals auch gedacht. Aber später – da habe ich ihn verstanden. Ich war für ihn eben nur ein Abenteuer, das man am Rand mitnimmt. Wahrscheinlich haben die meisten Männer solche Dinge auf dem Gewissen.«

      »Nein, das glaube ich nicht«, sagte Helga Gärtner entschieden. »Er musste wissen, wie viel du für ihn riskiert hast. Sich mit einem Polen einzulassen, galt damals ja geradezu als Staatsverbrechen. Er konnte nicht daran zweifeln, wie sehr du ihn liebtest.«

      »Das bedeutete ihm eben nichts. Vergiss nicht, dass er eine zu starke Bindung an eine Deutsche auch fürchten musste.«

      »Aber diese Bindung war doch schon da. Das Kind, der kleine Udo.«

      Als Magdalene sie unterbrechen wollte, wehrte sie mit einer energischen Handbewegung ab. »Ja, ich weiß, das Kind war erst unterwegs. Aber wo ist denn da der Unterschied? Auch ein noch ungeborenes Kind ist im juristischen und moralischen Sinne – na, eben ein Mensch. Und gerade, als du es ihm sagtest, hat er sich doch aus dem Staub gemacht.«

      »Er konnte – oder, bitte –, er wollte die Verantwortung nicht auf sich nehmen. Wie hätte er mir auch helfen können? An eine Heirat zwischen uns war ja nicht zu denken.«

      »Merkwürdig«, sagte Helga Gärtner und beobachtete Magdalene scharf aus ihren hellen intelligenten Augen, »wieso nimmst ausgerechnet du ihn eigentlich in Schutz? Liebst du ihn etwa noch immer?«

      Eine feine Röte stieg in Magdalenes Stirn. »Nein, ich versuche nur gerecht zu sein.«

      »Das verstehe ich nicht. Jedenfalls nicht in deinem Fall.«

      »Helga«, sagte Magdalene und sah die Freundin flehend an, »wie hätte ich denn leben können all die Jahre, wenn Hass mein Herz vergiftet hätte? Glaube mir, ich habe noch lange unter seiner Gemeinheit, seinem rücksichtslosen Verrat gelitten, noch als ich mit Herbert verheiratet war. Erst ein weiser alter Inder hat mich dahin gebracht, die Dinge so zu betrachten, als ob sie nicht mir, sondern einer Fremden geschehen.«

      »Dadurch werden sie aber doch nicht besser.«

      »Nein. Aber es sind damals so viele Grausamkeiten, Unmenschlichkeiten begangen worden. Wenn man es nicht ver steht, seine Seele von diesen Dingen zu befreien, zerstört man sich selbst.«

      »Das ist also der wahre Grund, warum du nicht nach Udo gesucht hast?«

      »Ja«, bekannte Magdalene, »ich hatte ihn lieb, von ganzem Herzen lieb, als Mutter.« Sie blickte Helga Gärtner flehend an. »Sonst hätte ich ihn doch gar nicht aus dem Heim geholt, um ihn auf der Flucht mitzunehmen, nicht wahr?«

      »Ich hatte immer das Gefühl, dass du ihn liebtest.«

      »Aber andererseits – es war eine schmerzhafte Liebe. Er erinnerte mich so sehr an Jan. Nicht durch sein Aussehen, sondern überhaupt. Wenn ich ihn nur ansah, gab es mir einen Stich ins Herz. Alle Wunden rissen wieder auf. Dass ich ihn dann auf der Flucht verlor, war für mich – wie eine Fügung Gottes.«

      »Ich verstehe«, sagte Helga Gärtner leise, »jetzt verstehe ich alles.«

      »Ich wusste, dass es falsch war, nach Deutschland zurückzukehren«, sagte Magdalene, »ich wusste es.«

      »Das darfst du dir nicht einreden. Vielleicht ist es gar nicht der Jan. Eine Namensgleichheit. So etwas kommt doch oft vor. Ich werde versuchen, mir ein Bild zu beschaffen.«

      Magdalene hatte gar nicht zugehört. »Singh Ree hatte mich gewarnt«, sagte sie, »aber ich habe nicht auf ihn gehört. Ich konnte seinem Rat nicht folgen.« Plötzlich kam ihr ein Einfall. »Darf ich deine Hand sehen, Helga? Nein, anders, die Handfläche nach oben.«

      Halb belustigt, halb missbilligend beobachtete die Journalistin, wie Magdalene ihre Handlinien betrachtete, sie sanft mit dem Finger verfolgte. »Da!« sagte sie. »Da, siehst du? Diese feinen Linien, die alle auf einem Punkt deine Lebenslinien kreuzen? Im fünften Haus, genau wie bei mir. Sieh dir’s doch an, Helga! Vergleiche! Es ist dieselbe Katastrophe, in die wir verwickelt werden. Nur wirst du …«

      Mit einem Ruck zog Helga Gärtner ihre Hände zurück. »Ich will es gar nicht wissen, Magda«, sagte, sie, »ob du es nun verstehst oder nicht, mich interessiert die Zukunft erst, wenn sie da ist.«

      »Hast du dir auch noch nie ein Horoskop stellen lassen?«

      »Nein. Ich weiß nicht einmal …«

      In diesem Augenblick kam Evelyn die Treppe herunter. Sie trug ein zartgrünes Kleid aus Hongkongseide, das blonde Haar fiel ihr duftig auf die Schultern. Um ihren schönen Mund spielte ein glückliches, fast verträumtes Lächeln.

      »Siebzehn Jahre«, sagte Helga Gärtner nachdenklich, »so alt warst du, als du …«

      »Still«, mahnte Magdalene, »ich bitte dich, sei still!« Mit einem verkrampften Lächeln wandte sie sich an Evelyn, die unbefangen auf sie zukam. »Das dauerte aber lange, Liebling. Ich dachte schon, du würdest überhaupt nicht mehr fertig.«

      Evelyn begrüßte Helga Gärtner. Dann sagte sie, mit einem Blick auf ihre zierliche Armbanduhr: »Entschuldige bitte, Mama. Ich glaube, es ist reichlich spät geworden.«

      Helga Gärtner erhob sich sofort. »Auch für mich ist es höchste Zeit geworden.«

      »Wann sehen wir uns wieder?« fragte Magdalene.

      Die Journalistin zog eine Visitenkarte aus ihrer Aktentasche. »Hier steht alles drauf. Adresse und Telefonnummer. Ich stehe dir jederzeit zur Verfügung, wenn du mich brauchst.«

      »Und das Bild?«

      »Ich werde versuchen, es zu beschaffen. Frag’ gelegentlich nach.«

      Die Journalistin verließ als Erste die Halle, sehr schlank und attraktiv in dem hellen Mantel mit dem eng geschlungenen Gürtel.

      »Was für ein Bild?« fragte Evelyn. Aber die Mutter antwortete nicht. Sie sah Evelyn an, und das Herz tat ihr weh vor Liebe und Sorgen um die einzige Tochter. – Siebzehn Jahre, hatte Helga gesagt, genau so alt wie du damals! – Sie hatte sich bemüht, es zu vergessen, und doch war es die Wahrheit. Siebzehn Jahre war sie gewesen, als sie zum ersten Mal einen Mann geliebt hatte. Einen Menschen, der ihre Liebe nicht verdiente.

      Sie wusste, dass sie alles tun würde, um ihre Tochter vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren.

      3

      Magdalene und Evelyn fuhren mit dem Vorortzug nach Köln. Evelyn hatte vorgeschlagen, die Hohe Straße hinauf und hinab zu schlendern.

      Aber es wurde nicht viel aus dem Schaufensterbummel. Evelyn war unruhig, drängte voran. Auch Magdalene war ganz von ihren eigenen Sorgen gefangen, sie hielt es nicht lange durch, Interesse für modische Neuheiten zu heucheln. Mutter und Tochter fühlten deutlich, dass sie an einem Wendepunkt ihrer Beziehungen angelangt waren.

      »Ich glaube, ich werde müde«, behauptete Evelyn, kaum, dass sie zwanzig Minuten unterwegs waren, »und ich habe große Lust auf ein Eis. Wollen wir nicht irgendwo hineingehen?« Magdalene stimmt sofort zu. »Gern. Sobald wir an ein Lokal kommen.«