Mädchenwohnheim. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788711719404
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lag in der Amalienstraße. Ihm das Gutachten zu bringen, bedeutete für Gitte einen Umweg von einer Viertelstunde. Das machte ihr nichts aus. Aber das Gerede von Andreas hatte sie irritiert. Bisher war sie gar nicht auf die Idee gekommen, den Doktor als Mann zu betrachten. Er war schlank, trug eine Brille, hatte ein ruhiges, freundliches Wesen, war ein gewissenhafter Arzt und unverheiratet. Mehr wusste sie nicht von ihm. Zwar war er ihr nicht unsympathisch, aber er gehörte doch zu einer ganz anderen Kategorie von Menschen und war außerdem viel zu alt für sie, Ende zwanzig, vielleicht sogar schon dreißig, ganz davon abgesehen, dass sie nur ihren Peter liebte. Gitte konnte sich auch gar nicht vorstellen, dass Dr. Reinecke sich tatsächlich für sie interessierte. Wahrscheinlich hatte Andreas sich nur was zurechtgesponnen.

      Dennoch war es ihr plötzlich unbehaglich, dem Arzt unter die Augen zu treten. Am liebsten hätte sie den Umschlag einfach in seinen Türbriefkasten geworfen und wäre davongelaufen. Aber ihr Pflichtgefühl siegte. Sie drückte auf die Klingel und hoffte, dass er auf einem Patientenbesuch wäre.

      Aber wenige Augenblicke später öffnete er selber die Tür. »Hallo, Gitte! Kommen Sie doch rein!«

      Sie folgte seiner Aufforderung zögernd. »Guten Tag, Herr Doktor.« Sie hielt ihm das Gutachten hin.

      »Sie haben es wohl sehr eilig?«

      »Immer«, behauptete sie.

      Er riss den Umschlag auf, nahm das Schreiben heraus und überflog es. »Tut mir leid, dass ich Sie bemühen musste, aber es handelt sich um einen kleinen Jungen, wissen Sie …«

      »Na, so schlimm ist der Umweg für mich ja nun auch wieder nicht.«

      »Aber Sie haben heute Abend was vor?« fragte er.

      Er sah sie dabei nicht an, und das machte ihr das Lügen leichter.

      »Ja.«

      Jetzt ließ er das Blatt sinken, und der Blick seiner Augen hinter den blitzenden Brillengläsern wurde eindringlich. »Jeden Abend?«

      »So ziemlich.«

      »Kann ich mir vorstellen. Ein schönes Mädchen wie Sie … und allein in München!«

      Sie schwieg und bemühte sich, vielsagend zu lächeln. Warum ihr das Herz mit einem Mal so weh tat, wusste sie selber nicht. Wahrscheinlich lag es einfach daran, dass sie es nicht gewohnt war zu lügen, und weil es ihr schrecklich war, dass sich der gute Doktor nun ein ganz falsches Bild von ihr machen musste.

      »Na, dann will ich Sie nicht länger von Ihrem Vergnügen abhalten«, sagte er.

      Gitte machte, dass sie davonkam.

      Erst als sie ein Stück gelaufen war, wurde ihr besser. Sie hatte so und nicht anders handeln müssen. Das war sie ihrem Peter schuldig. Sie hätte ja nicht gut sagen können, dass sie sich nie verabredete, weil sie ihrem fernen Freund treu bleiben wollte. Und außerdem war er selber schuld, dass sie ihn belogen hatte. Warum musste er auch so blöde Fragen stellen. Sie hatte es für Peter getan, und darum war es richtig.

      Angi hatte, als sie von der Schule heimgekommen war, das große Haus für sich allein gehabt, denn es gab nur wenige Gymnasiastinnen im Heim und einige Studentinnen, aber die meisten Bewohnerinnen waren Lehrlinge oder junge Angestellte.

      Sie hatte zu Mittag gegessen, ihre Aufgaben erledigt und sich dann schöngemacht. Für das weiße Faltenröckchen, das gerade noch ihren Po bedeckte, war sie eigentlich zu mollig, aber sie war jung genug, dennoch reizend darin auszusehen. Mit sehr viel Mühe hatte sie ihre rotblonden Locken gebändigt und mit einem weißen Band geschmückt.

      Jetzt trieb sie sich, seit fünf Uhr, unentwegt vor der Haustür herum. Die Mädchen kamen, müde oder unternehmungslustig, eine nach der anderen heim, und schon fanden sich auch die ersten Besucher ein.

      »He, Angi, was ist los mit dir?« rief Lola. »Wartest du auf jemand Bestimmtes?«

      »Du hast’s erraten.«

      »Du kannst aber trotzdem ruhig mit reinkommen. Wenn man Besuch kriegt, wird man benachrichtigt.« Aber das wollte Angi nicht riskieren. Sie hatte eine Höllenangst, Tom van Wiek zu verpassen, denn tatsächlich hatte es seinetwegen bei ihr zu Hause dauernd Krach gegeben, der schließlich dazu geführt hatte, dass sie ins Heim kam. Er war ein stellungsloser Schauspieler, der von irgendwelchen »Geschäften« lebte. Mal hatte er viel Geld und mal keins. Angi war das egal, ihren Eltern aber nicht.

      Sie hätte sich nicht gewundert, wenn die Eltern Frau Tyssen eingeschärft hätten, dass sie mit jedem anderen Jungen, nur nicht mit Thomas van Wiek Zusammenkommen dürfte.

      Endlich tauchte er von der Leopoldstraße her auf, schlank und breitschultrig und elegant. Sie jagte ihm entgegen, obwohl sie wusste, dass es nicht klug war, ihm so deutlich zu zeigen, wie viel ihr an ihm lag.

      Sein Lächeln wurde denn auch gleich ein bisschen überheblich. »Na, na, warum so aufgeregt?«

      Sie flog ihm an die Brust. »Ich hatte solche Angst, du könntest nicht kommen!«

      »Kleine Spinnerin du.« Er klopfte ihr auf den Rücken.

      »Du hast so viel Schwierigkeiten meinetwegen.«

      »Na, wenn schon. Aber genug jetzt. Bloß keine Szenen auf offener Straße.«

      Sie löste sich von ihm und sah ihn erwartungsvoll an.

      »Wohin gehen wir?«

      »Ins Heim, denke ich. Soviel ich weiß, habt ihr dort einen Aufenthaltsraum …«

      »Nein, nein … oh, bitte nicht!« rief Angi spontan.

      Thomas van Wiek blickte sie mit hochgezogenen Brauen an. »He, was ist los mit dir?«

      »Ich möchte nicht, dass du ins Heim kommst.« Sie stampfte mit dem Fuß auf. »Kannst du das denn nicht verstehen?«

      »Wie sollte ich! Wenn du einen wirklichen Grund hast, warum ich nicht reinkommen soll, musst du schon deutlicher werden.«

      »Frau Tyssen hat heute Dienst …«

      »Wer ist das?«

      »Die Leiterin! Und sie ist besonders genau, sagen alle. Meine Eltern haben ihr bestimmt beigebracht, dass ich nicht mit dir verkehren darf.«

      »Hat sie so was durchblicken lassen?«

      »Bis jetzt noch nicht.«

      »Einen Grund mehr, dass ich dich begleite. Dann wissen wir wenigstens, woran wir sind.« Er nahm ihren Arm und zog sie mit sich auf das Portal des Wohnheims zu. »Sei doch kein Angsthase, Angi. Was kann deine gestrenge Frau Tyssen uns schon wollen?«

      »Sie kann dich rauswerfen!« Angi war den Tränen nahe.

      »Na, und wenn schon! Dann sind wir doch auch nicht schlechter dran als jetzt. Komm, nimm dich zusammen.«

      Sie sträubte sich immer noch. »Aber warum, Tom? Warum muss das sein? Und ausgerechnet heute?« »Erstens bin ich wieder mal blank und habe keine Lust, mit dir durch den Englischen Garten zu trotten … und zweitens möchte ich mir den Stall mal ansehen.«

      Angi merkte, dass die hinein- und herausgehenden jungen Leute sie schon neugierig anstarrten und ergab sich in ihr Schicksal. »Auf deine Verantwortung«, sagte sie.

      Er grinste. »Aber immer.«

      Sie hielt ihn noch einmal zurück, als er schon die Tür aufgestoßen hatte. »Und wo erreiche ich dich, wenn’s schief geht?«

      »Hm.« Er strich sich mit zwei Fingern rechts und links über die dunklen, dichten Koteletten. »Momentan habe ich keine feste Adresse. Schlafe so herum, weißt du. Aber frag doch mal von Zeit zu Zeit im ›Café Venezia‹. Da hinterlasse ich dir dann eine Nachricht.«

      »Oh, Tom!« Jetzt hätte sie wirklich beinahe losgeheult, überwältigt von den Schwierigkeiten, die sich ihrer Liebe entgegenstellten.

      Er gab ihr einen Stoß in den Rücken. »Kopf hoch und ran an den Feind!« Selbstbewusst und lässig, ganz Herr