Mädchenwohnheim. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Книги для детей: прочее
Год издания: 0
isbn: 9788711719404
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helfen, Gitte, du musst! Du bist meine letzte Rettung!«

      »Komm, komm, Angi, mach’s nicht zu dramatisch! Sieh zu, dass du deinen Krempel weggeräumt kriegst, und dann spendier ich dir auch ein Glas.«

      »Nein!« Angi schüttelte Gitte bei den Schultern. »Begreifst du denn nicht, in was für einer Situation ich stecke! Mein Freund weiß nicht, wo ich bin! Ich kann ihn nicht anrufen. Wenn ich ihn jetzt nicht benachrichtige, sehe ich ihn nie wieder. Er wartet auf mich vor dem ›Yellow‹.«

      »Wenn er dich wirklich liebt …«

      »Red doch nicht so blöd daher wie eine Erwachsene! Natürlich liebt er mich. Aber ich kann doch nicht von ihm verlangen, dass er sich lächerlich macht, indem er sämtliche Münchner Wohnheime und Internate abklappert. Wer weiß denn, wie weit die Liebe eines Mannes reicht? Und außerdem ist er kein Miesling, der ausgerechnet auf mich angewiesen ist!«

      Gitte hatte nicht die geringste Lust, das Zimmer, das Lola und sie mit Postern, Plakaten, einer selbst gebatikten Tischdecke und bunten Kissen wohnlich gemacht hatten, noch einmal zu verlassen. Aber sie spürte, dass Angis Verzweiflung echt war, und sie wusste aus Erfahrung, wie sehr die Liebe schmerzen kann. »Na schön«, sagte sie mit einem Seufzer, »dann werde ich mich eben opfern. Wie heißt der Knabe? Und wie sieht er aus?«

      »Oh, Gitte!« schrie Angi. »Du bist ein Engel! Das werd’ ich dir nie im Leben vergessen!«

      Vor dem »Yellow Submarine«, das von außen wie ein riesiger, bunt bemalter Zementblock wirkte, standen einige junge Männer, einzeln oder in Gruppen, zusammen. Dennoch fand Gitte den Mann, den sie suchte, sehr rasch.

      Thomas wirkte nicht ganz so blendend, wie Angi ihn beschrieben hatte, war aber immer noch ansehnlich genug, um ein Mädchen in sich verliebt zu machen. Er war schlank, breitschultrig und sehr viel älter als Angi, Anfang oder sogar Mitte zwanzig. Er trug einen hellen Dufflecoat, hatte den Kragen aufgeschlagen und die Hände in die Taschen vergraben. Das dichte, dunkle Haar war lang und wuchs ihm in leicht gelockten Koteletten über die Wangen.

      »Herr van Wiek«, sagte Gitte.

      Er lächelte interessiert. »Sollten wir uns kennen?«

      »Nein. Ich komme von Angi. Sie kann die Verabredung nicht einhalten. Sie ist jetzt im Mädchenwohnheim in der Ainmillerstraße, und dort kann sie nach einundzwanzig Uhr nicht mehr fort.«

      Thomas van Wiek zog eine leicht übertriebene und deshalb komische Grimasse des Entsetzens. »Nie?«

      »Wenigstens vorläufig nicht.«

      »Na, dann richten Sie ihr mein tief empfundenes Beileid aus.«

      »Sie können sie besuchen.«

      »Wann?«

      »Jeden Tag. Wir haben einen Aufenthaltsraum, wo wir unsere Freunde empfangen dürfen.«

      »Haben Sie einen Freund?« fragte Thomas van Wiek. Ihr Gesicht verschloss sich. »Das steht hier nicht zur Debatte.« Sie wandte sich zum Gehen.

      »Moment.« Er legte ihr die Hand auf die Schulter und hielt sie zurück. »Warum haben Sie es denn so eilig? Ich wollte Sie gerade bitten, mir Gesellschaft zu leisten.«

      Bis zu diesem Augenblick war er ihr sympathisch gewesen, aber dass er so schnell bereit war, Angi zu vergessen und sich mit ihr zu trösten, gefiel ihr ganz und gar nicht. »Nein«, sagte sie kalt, »ich denke nicht daran. Wie könnte ich mich denn mit Ihnen amüsieren, während Angi sich die Augen ausweint?«

      »Ach so. Sie sind eine kleine Sentimentale.«

      Er grinste.

      Sie riss sich von ihm los. »Und Sie ein gemeiner Egoist!«

      »He, soll ich Sie nicht wenigstens nach Hause fahren?« rief er ihr nach.

      Aber sie würdigte ihn keiner Antwort, sondern machte, dass sie davonkam.

      Lola tanzte in der Amor-Bar. Mit Philip, genannt Fips, ihrem neuen Freund, Verkäufer im Supermarkt, einsneunzig groß, langes, blondes Haar und blaue Augen. Der Diskjockey legte einen Rock ’n’ Roll nach dem anderen auf. Die Stimmung war ganz groß, und Lola fühlte sich toll. Dennoch vergaß sie keine Sekunde, dass sie pünktlich im Heim sein musste.

      »Guck doch nicht dauernd auf die Uhr«, schimpfte Fips, »das geht mir auf den Wecker.«

      »Du, es ist Viertel vor elf. Ich muss sausen.«

      »Quatsch.«

      »Kein Quatsch.« Lola drängte sich durch die Tanzenden zur Garderobe; mit Erleichterung stellte sie fest, dass Fips ihr nachkam.

      »Ist das denn so schlimm, wenn deine Leute sich aufregen?« Er half Lola in den Mantel.

      »Ich lebe nicht bei meinen Leuten, sondern in einem Mädchenwohnheim, und wenn ich bis elf Uhr nicht da bin, stehe ich auf der Straße. Nicht nur diese Nacht, sondern sie feuern mich. Für immer.«

      »Dann suchst du dir eben eine sturmfreie Bude.«

      Sie holte tief Atem. »Fips, es ist besser, ich sag es dir gleich. Ich bin erst siebzehn, und ich stehe unter Fürsorge. Weil ich mal von zu Hause ausgerissen bin. Die haben mich da eingewiesen, weil ich nicht mehr zurückwollte. Aber wenn ich jetzt noch was anstelle, stecken sie mich womöglich in ein Erziehungsheim.«

      »Ach, du große Scheiße!«

      Sie versuchte, ihrer Stimme Festigkeit zu geben. »Wenn du unter diesen Umständen lieber nichts mit mir zu tun haben möchtest, brauchst du es mir nur zu sagen.«

      Philip, genannt Fips, legte den Arm um Lolas Schulter. »Du spinnst wohl«, sagte er herzlich, »davon habe ich kein Wort gesagt.«

      Lola riss sich los. »Aber du hast mich komisch angeguckt … gib’s doch zu!« Sie stieß die Tür zur Straße auf.

      Fips folgte ihr ins Freie.

      »Mensch, nimm doch Vernunft an«, redete er auf sie ein, »kann schon sein, dass ich ein bisschen schief aus der Wäsche geguckt habe …«

      »Also doch!«

      »Aber nicht wegen der Fürsorge. Warum bist du denn eigentlich von zu Hause weg?«

      »Weil ich mich mit meinem Alten nicht verstanden habe, was denn sonst!« rief sie aufgebracht.

      »Hätte ja auch ’nen anderen Grund haben können«, erklärte er nüchtern.

      »Nun tu bloß nicht so, als würdest du dich unbändig für mein Schicksal interessieren!«

      »Unbändig!« Fips lachte schallend.

      »Das ist genau der richtige Ausdruck. Ich interessiere mich unbändig für dich, Kleine! Hast du das endlich kapiert?«

      Sie blieb stehen und funkelte ihn aus ihren schwarzen Augen an. »Ich glaub’ dir kein Wort!«

      Er nahm sie bei den Schultern, beugte sich zu ihr hinab und küsste sie fest und lange auf den Mund, bis ihre Lippen weich wurden und sich ihm öffneten.

      »Na, und was sagst du jetzt?« fragte er, als er sie endlich freigab.

      »Das war ein richtiger Dauerbrenner!«

      »’ne Liebeserklärung war das! Oder glaubst du, ich küsse jedes Mädchen so?«

      »Man kann nie wissen«, behauptete sie, aber das Strahlen ihrer Augen strafte ihre Worte Lügen.

      Ganz leise drückte Lola fünfzehn Minuten später die Klinke nieder und öffnete langsam, um ein Quietschen zu verhindern, die Tür zu ihrem Zimmer. Aber sie hätte nicht so rücksichtsvoll zu sein brauchen; die beiden anderen Mädchen waren noch wach. Gitte lag im Bett und las im Schein der Nachttischlampe. »Du, das war aber knapp«, sagte sie mit einem Blick auf das Zifferblatt ihres Weckers. »Ich wusste ja, dass die Zöllner Pforte hatte. Die gibt schon ein paar Minuten zu, wenn sie weiß, dass noch eine draußen ist.«

      »So felsenfest würde ich mich darauf aber nicht verlassen.«