3. In der jüdischen und insbesondere der biblischen Tradition ist die Veränderung bringende et qets (Endzeit) folgendermaßen definiert: als allgemein, universell und radikal. Sie bedeutet nicht die Verbesserung der bis zu diesem Zeitpunkt existierenden, sondern die Erschaffung einer völlig anderen Welt.16 Das Erscheinen des Messias am Ende der Tage, be’akharit hayamim, begründet ein Zeitalter der Harmonie, oder besser gesagt, stellt es wieder her. Harmonie wird herrschen zwischen Gott und den Menschen, zwischen Mensch und Natur und den Menschen untereinander. Es sind die berühmten Visionen aus Jesaja 11:8, wo der Säugling »vor dem Schlupfloch der Natter« spielt, oder Jesaja 2:4, die Verkündigung des ewigen Friedens: loyissagoielgoiherev weloyilmedu od milhamah – »Man zieht nicht mehr das Schwert, Volk gegen Volk, und übt nicht mehr für den Krieg.«17
Die Korrespondenz mit den revolutionären Utopien der Neuzeit erstreckt sich hier ebensowohl auf den absoluten und radikalen Charakter der Veränderung, wie auf den Inhalt dieser neuen bzw. wieder hergestellten Welt selbst. Tatsächlich aber weist von allen revolutionären Bewegungen der Neuzeit am entschiedensten der Anarchismus den Gedanken zurück, die bestehende Ordnung der Dinge ließe sich verbessern.
4. Ein wichtiger Aspekt des allgemeinen eschatologischen Umsturzes ist die Vernichtung der weltlichen Macht. Bei Jesaja lesen wir: »Seht, der Tag des Herrn kommt, voll Grausamkeit, Grimm und glühendem Zorn«(Jesaja 13:9); »dem Hochmut der Stolzen mache ich ein Ende und werfe die hochmütigen Tyrannen zu Boden«(Jesaja 13:11). »Der Herr hat die Knüppel der Frevler zerbrochen, den Stock der Tyrannen, der in seinem Zorn die Völker erschlug, sie schlug ohne Ende, der die Völker in seiner Wut zertrat und sie verfolgte ohne jedes Erbarmen.« (Jesaja 14:5-6).18
Andere alttestamentliche und apokalyptische Texte gehen noch weiter. Sie beschwören die Aufhebung jeder Macht und Autorität, die von Menschen getragen wird, zugunsten einer Theokratie im eigentlichen Sinne des Wortes. Gott selbst, ohne Vermittler und Stellvertreter, soll die Herrschaft übernehmen. Mowinckel schreibt, Jahwe selbst sei der Herrscher des künftigen messianischen Königreichs, melekh yisrael wegoalo, König Israels und sein Erlöser (Jesaja 44:6).19
Und Jakob Taubes: »Die Theokratie ist auf dem anarchischen Seelengrund Israels errichtet. In der Theokratie äußert sich der Trieb des Menschen, von aller menschlich irdischen Bindung frei zu sein und im Bund mit Gott zu stehen.«20
Natürlich sind wir hier weit entfernt vom modernen Anarchismus, in dessen Devise »Weder Gott noch Herr« sich die Verweigerung jeder Autorität manifestiert, sei sie nun weltlich oder göttlich. Aber diese Ablehnung jeder von Menschen getragenen »leiblichen« Macht stellt eine bedeutungsträchtige Analogie und Korrespondenz dar und setzt uns in die Lage, jene eigenartige Denkfigur bestimmter zeitgenössischer, jüdischer Intellektueller wie Benjamin und Scholem besser zu begreifen: den theokratischen Anarchismus.
5. Was bleibt, ist der Aspekt des jüdischen Messianismus, den Scholem als den eigentlich »anarchischen« bezeichnet hat. In mehreren Textpassagen des Talmud und der Kabbala finden wir die Idee, die Ankunft des Messias bedeute die Aufhebung sämtlicher Einschränkungen und Verbote, welche die Thora den Juden bis zu diesem Zeitpunkt auferlegte. Im messianischen Zeitalter verliert die überlieferte Thora ihre Gültigkeit. Sie wird abgelöst von einem neuen Gesetz, der »Thora der Erlösung«, die keine Verbote mehr kennt. In einer neuen, paradiesischen Welt ist die Macht des Bösen gebrochen und der Baum des Lebens wird zum beherrschenden Symbol. Damit verlieren die Beschränkungen ihre Bedeutung, die den Juden in einer unerlösten, vom Baum der Erkenntnis regierten Welt auferlegt waren. Dieses »anarchische« Element weist Scholem an einer bestimmten Interpretation von Psalm 146:7 nach, die eine neue Lesart des hebräischen Urtextes voraussetzt. Anstelle der traditionellen Version »Gott löst die Gefangenen« (mattir asurim) müßte es heißen »Gott löst die Verbote auf« (mattir isurim).21
Es scheint gerechtfertigt, diese Aussage als »anarchisch« zu qualifizieren, denken wir nur an die berühmte Formulierung Bakunins, die Mannheim als signifikantes Beispiel für die chiliastische Haltung der radikalen Anarchisten zitiert: »Ich glaube nicht an Konstitutionen und an Gesetze; die beste Konstitution würde mich nicht befriedigen können. Wir brauchen etwas anderes; Sturm und Leben und eine neue gesetzlose und darum freie Welt.«22
Diese fünf Aspekte gehören zusammen. Ihre Untersuchung zeigte Übereinstimmungen zwischen zwei kulturellen Phänomenen auf, die ganz verschiedenen Bereichen angehören. Diese Übereinstimmungen könnte man als strukturelle Homologie und spirituelle Isomorphie bezeichnen, da sie sowohl die Sprachstruktur als auch den geistigen Inhalt von jüdischem Messianismus und revolutionärer, sprich libertärer Utopie der Neuzeit betreffen.
Unter »libertär« verstehen wir hier nicht nur anarchistische bzw. anarchosyndikalistische Lehren im eigentlichen Sinn, sondern auch progressive Tendenzen im Sozialismus – einschließlich des marxistischen –, die durch eine antiautoritäre und anti-etatistische Haltung gekennzeichnet sind.
Das Feld der Korrespondenzen (Baudelaire), das unterirdische Netz von Analogien, Ähnlichkeiten, Äquivalenzen zwischen mehreren Elementen der beiden kulturellen Konfigurationen haben wir bisher nur markiert. Für sich allein betrachtet konstituieren diese Korrespondenzen noch keine wirkliche Beziehung: Der Anarchismus Proudhons oder Bakunins, die – nebenbei bemerkt – beide Antisemiten waren, hat mit der religiösen Tradition des Judentums nichts zu tun. Nur zu einem konkreten historischen Zeitpunkt (der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts) und innerhalb eines konkreten soziokulturellen Milieus wurden sie dynamisch und entwickelten sich im Werk bestimmter jüdischer Intellektueller zu einer wirklichen Wahlverwandtschaft von Messianismus und libertärer Utopie.
Mit anderen Worten: Es bedurfte einer bestimmten Konstellation sozialer, historischer und kultureller Faktoren, damit dieser Prozeß entstehen konnte, diese attractio electiva oder »kulturelle Symbiose«, die von wechselseitiger Befruchtung und Stimulierung beider spiritueller Figuren bis zu ihrer Vereinigung und Verschmelzung reicht, und die die Weltanschauung der wichtigsten deutschsprachigen jüdischen Intellektuellen entscheidend geprägt hat.
Der Charakter der Verbindung und die Frage, aus welchen Elementen sie besteht, hängt vom jeweiligen Autor ab. Eine Vermischung wie eine Legierung aus zwei Metallen wäre denkbar, oder ein Ineinandergreifen zweier Element wie bei einem Gelenk. Eine oder mehrere der »Korrespondenzen«, die wir ermittelt haben, können beteiligt sein.
Die einfachste, jedermann sofort einleuchtende Erklärung des Phänomens wäre die Interpretation des jüdischen Messianismus als »Quelle«, aus der die libertäre Utopie der jüdischen Intellektuellen ihre Kraft bezog.
Die Hypothese ist nicht völlig zu verwerfen und enthält wahrscheinlich »ein Körnchen« Wahrheit, läßt aber neue Probleme entstehen: a) Ein Einfluß allein reicht als Erklärung nicht aus und müßte selbst wiederum erklärt werden. Warum hat diese Lehre, und keine andere, ausgerechnet jenen Autor beeinflußt? Die Frage stellt sich um so mehr, als fast alle hier zur Debatte stehenden Autoren eine Erziehung genossen haben, die sie den religiösen Traditionen des Judentums weitgehend entfremdet hat. In Osteuropa sah die Sache anders aus. Die deutschsprachigen jüdischen Intellektuellen hingegen kamen durchweg aus einem assimilierten Milieu, bezogen ihre kulturelle Orientierung aus der deutschen Literatur und Philosophie und verehrten die Schriften Goethes, Schillers, Kants und Hegels. Der Talmud und die Kabbala galten als atavistische, obskurantistische Relikte der Vergangenheit.
b)Die messianische Idee hat im Judentum ganz unterschiedliche Deutungen erlangt. Neben der konservativen Lesart der Rabbiner und der rationalistischen Deutung durch Maimonides finden wir die Auslegung Hermann Cohens, die vom liberalen, fortschrittsgläubigen Geist der Aufklärung und ihrer jüdischen Entsprechung, der Haskala, beeinflußt ist. Warum ist von einer