Um die unterschiedlichen Bedeutungsschichten des Begriffs zu erschließen, beginnen wir mit einem kurzen Abriß seiner Geschichte.
In der griechischen Antike taucht der Gedanke auf, die Bereitschaft der Körper, sich zu vereinigen, resultiere aus einer sichtbaren oder verborgenen Ähnlichkeit. Wir finden ihn vor allem in der Formulierung des Hippokrates: omoion erchetai pros to omoion (simile venit ad simile). Aber die Bezeichnung Affinität als Metapher der Alchimie findet sich erst im Mittelalter; die erste Quelle ist wahrscheinlich Albertus Magnus, nach dem sich der Schwefel mit den Metallen verbindet, weil er mit ihnen verwandt ist: Propter affinitatem naturae metalla adurit. In Deutschland greift den Gedanken Johannes Conradus Barchusen, ein berühmter Alchimist des 17. Jahrhunderts, auf, er spricht von reciprocam affinitatem1, desgleichen Boerhaave, ein Niederländer des 18. Jahrhunderts. In seinem Buch Elementa Chemiae (1724) erklärt er: Particulae solventes et solutae se affinitate suae naturae colligunt in corpora homogenea. Die Beobachtung des Verhaltens von Gold und Königswasser in einem Gefäß läßt ihn feststellen: »Warum sinkt das Gold, das achtzehnmal schwerer wiegt als Königswasser, nicht auf den Grund des Gefäßes? Seht ihr nicht deutlich, daß jedem Teilchen Gold und jedem Teilchen Königswasser eine Kraft innewohnt, die bewirkt, daß sie sich suchen, vereinigen und finden?« Diese Kraft ist die Affinität. Sie bewirkt die Verbindung der beiden heterogenen Körper in einer Vereinigung, die einer Ehe vergleichbar ist, einer noce chimique – alchimistische Hochzeit –, eher aus der Liebe geboren denn aus Haß: magis ex amore quam ex odio.2
Der Begriff attractiones electivae erscheint zum ersten Mal bei dem schwedischen Chemiker Torbern Olof Bergman. Seine Schrift De attractionibus electivis (Uppsala 1775) wird auf Französisch unter dem Titel Traité des affinités chimiques ou attractions électives (1788) veröffentlicht. Zur Terminologie erklärt Bergman: »Einige verwenden den Begriff Affinität für das, was wir Attraktion genannt haben. Ich werde im folgenden beide Begriffe gebrauchen, obwohl der erste, bildhaftere, für eine physikalische Untersuchung weniger geeignet erscheint.«
De Morveau, ein französischer Chemiker und Zeitgenosse Bergmans, betont in der Auseinandersetzung mit diesem, bei der Affinität handle es sich um einen besonderen Fall von Attraktion, bei der die Anziehungskraft besonders groß sei. Dank ihrer bildeten zwei oder mehrere Körper »ein Wesen mit neuen Eigenschaften, die ganz verschieden sind von denen, die diese Körper vor ihrer Verbindung besaßen«3.
In der deutschen Übersetzung des Buches von Bergman (Frankfurt am Main, Tabor Verlag, 1782–1790) wird attraction élective mit Wahlverwandtschaft wiedergegeben, was dem Französischen affinité élective entspricht.
Von dieser deutschen Version hat Goethe den Titel seines Romans Die Wahlverwandtschaften (1809) wahrscheinlich übernommen. Dort ist die Rede von einer wissenschaftlichen Untersuchung über chemische Vorgänge, die eine der handelnden Personen »etwa vor zehn Jahren« studiert hat. Mehrere Passagen widmen sich der Beschreibung des chemischen Vorgangs und wirken wie unmittelbare Auszüge aus dem Werk des schwedischen Gelehrten – vor allem die Untersuchung der Reaktion zwischen AB und CD, die sich neu verbinden zu AD und CB. Goethes Übertragung des chemischen Begriffs in den gesellschaftlichen Bereich der Spiritualität und der Gefühle war um so gewagter, als der Ausdruck seitens mehrerer Alchimisten (wie Boerhaave) mit sozialen und erotischen Vorstellungen bereits befrachtet war. Für Goethe liegt dann Wahlverwandtschaft vor, wenn zwei Wesen oder Elemente »einander suchen, sich anziehen, ergreifen … und sodann aus der innigsten Verbindung wieder in erneuter, neuer, unerwarteter Gestalt hervortreten.«4
Die Ähnlichkeit mit der Formulierung von Boerhaave (zwei Elemente die »sich suchen, vereinigen und finden«) ist verblüffend und wir können nicht ausschließen, daß Goethe auch das Werk des niederländischen Alchimisten kannte und daraus Anregungen bezog.
Seit Goethes Roman hat der Begriff sich im deutschen Sprachraum eingebürgert, er bezeichnet einen besonderen Typ von Seelenverwandtschaft. In Deutschland wird er auch seine dritte Metamorphose erfahren: Max Weber, dieser große Alchimist der Sozialwissenschaften, formt ihn um zu einem Konzept der Soziologie. Vom überlieferten Bedeutungszusammenhang übernimmt er bestimmte Konnotationen wie die der gegenseitigen Wahl, Anziehung und Verbindung, aber die Dimension des Neuen scheint zu verschwinden. Das Konzept der Wahlverwandtschaft – desgleichen das bedeutungsähnliche der Sinn-Affinitäten – taucht in Webers Schriften in drei präzisen Zusammenhängen auf.
Zuerst soll eine bestimmte Beziehung zwischen verschiedenen Erscheinungsformen der Religion charakterisiert werden. Zum Beispiel zwischen der Sendungs-Prophetie, bei welcher die Auserwählten sich als Werkzeug Gottes fühlen, und der Konzeption eines persönlichen, überweltlichen, zürnenden und mächtigen Gottes, besteht »eine tiefe Wahlverwandtschaft«.5
Des weiteren wird die Verbindung zwischen Klasseninteressen und verschiedenen Formen von Weltanschauung definiert. Nach Weber sind die Weltanschauungen autonom, aber die Entscheidung eines Individuums für diese oder jene hängt in hohem Maße von der Wahlverwandtschaft ab, die zwischen der Weltanschauung und seinen Klasseninteressen besteht.6
Schließlich wird die Beziehung zwischen religiösen Lehren und verschiedenen Formen der Wirtschaftsethik analysiert. In diesem Zusammenhang erscheint uns der Begriff am bedeutendsten. Als exemplarisch für seine Verwendung sei hier folgende Passage aus Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus angeführt: »Dabei kann nun angesichts des ungeheuren Gewirrs gegenseitiger Beeinflussungen zwischen den materiellen Unterlagen, den sozialen und politischen Organisationsformen und dem geistigen Gehalte der reformatorischen Kulturepochen nur so verfahren werden, daß zunächst untersucht wird, ob und in welchen Punkten bestimmte ›Wahlverwandtschaften‹ zwischen gewissen Formen des religiösen Glaubens und der Berufsethik erkennbar sind. Damit wird zugleich die Art und allgemeine Richtung, in welcher infolge solcher Wahlverwandtschaften die religiöse Bewegung auf die Entwicklung der materiellen Kultur einwirkte, nach Möglichkeit verdeutlicht.«7
Wir stellen fest, daß der Begriff das erste Mal in Anführungszeichen erscheint, als ob Weber sich entschuldigen wollte für die Verwendung einer romantischen und literarischen Metapher im Rahmen einer wissenschaftlichen Analyse. Aber im folgenden fallen die Anführungsstriche weg: das Wort ist zum Konzept geworden …
Es ist nicht verwunderlich, daß der Ausdruck im Zusammenhang der angelsächsischen positivistischen Rezeption Max Webers unverstanden blieb. Ein Beispiel, das ans Karikaturistische grenzt, liefert uns die englische Übersetzung der Protestantischen Ethik von Talcott Parsons, die um 1930 entstanden ist: In der oben zitierten Textpassage übersetzt er Wahlverwandtschaft einmal mit certain correlations, dann mit those relationships.8
Während Webers Begriff auf eine innere Beziehung zwischen den beiden Figuren verweist, die reich ist an Sinngehalt und Bedeutungen, verrät sie Parsons mit seiner Übersetzung, macht sie zu einer banalen Beziehung oder Wechselbeziehung, die äußerlich bleibt und sinnentleert. Man könnte nicht besser illustrieren, daß dieses Konzept unauflöslich verbunden ist mit einem ganz bestimmten kulturellen Hintergrund, einer Tradition, die ihm seine expressive und analytische Kraft verleiht.
In diesen drei von Weber verwendeten Definitionen besteht Wahlverwandtschaft