Es handelt sich also um eine Generation, die von der Geschichte besiegt worden ist. Es verwundert nicht, daß so viele unter ihnen den Selbstmord gewählt haben: Tucholsky, Toller, Wolfenstein, Carl Einstein, Hasenclever, Benjamin …
In seinen Thesen Über den Begriff der Geschichte forderte Walter Benjamin, die Geschichtsschreibung müsse den Standpunkt der Besiegten einnehmen. Die vorliegende Studie ist ein Versuch, diese Methode anzuwenden.
Es klingt paradox, aber gerade weil es sich um Verlierer handelt, um Außenseiter, die gegen den Zeitgeist gedacht haben, gegen den Strom geschwommen sind, um trotzige Romantiker und unheilbare Utopisten, gerade deshalb gewinnen ihre Werke immer mehr an Aktualität und Sinngehalt, je mehr wir uns dem Ende des 20. Jahrhunderts nähern.
Selbstverständlich wurde diese romantische und messianisch gestimmte Generation von politischen und ideologischen Strömungen beeinflußt, die völlig unterschiedlich, oft sogar widersprüchlich waren. Ziel dieser Arbeit kann nicht sein, zu einem Urteil im Hinblick auf ihre Debatten zu gelangen oder in ihren Kontroversen Position zu beziehen. Vielmehr geht es darum, diese Bewegung aus dem Gesamtzusammenhang heraus zu verstehen, ihre Entstehung in einer ganz bestimmten historischen und sozialen Lage in Mitteleuropa, in einem Moment der Krise und der Erneuerung der jüdischen Tradition und der deutschen Kultur. Es handelt sich darum, eine Methode anzuwenden, die zur Kultursoziologie gehört, um den Aufschwung einer neuen sozialen Kategorie zu analysieren: der jüdischen Intelligenz, und die Bedingungen, die in ihrem Zentrum das Aufblühen einer zweifachen geistigen Konfiguration begünstigen: romantische Utopie und den Glauben an einen Messias, der die Erlösung bringt. Der Schlüsselbegriff dieser Untersuchung, der neue und noch weitgehend unerforschte Möglichkeiten im Bereich der Kultursoziologie eröffnet, ist der der Wahlverwandtschaft; ein Begriff, der bei Goethe und Max Weber erscheint, hier aber anders verwendet wird. Hier wird das Werk von ungefähr fünfzehn Autoren behandelt, bekannten und unbekannten, berühmten und ruhmlosen, verehrten und vergessenen. Doch handelt es sich nicht darum, die Geschichte ihrer Ideen zu skizzieren oder eine kleine philosophische Darstellung jedes von ihnen zu präsentieren. Vielmehr soll in seiner Vielschichtigkeit von Bedeutungen ein kulturelles Universum wiedererstehen, das auch soziale Ursachen hatte. Diese Herangehensweise will versuchen, einen bedeutenden Bereich der modernen europäischen Kultur unter einem neuen Blickwinkel zu erhellen, ein unterirdisches Netz von Beziehungen zu enthüllen, das jene kreativen Geister miteinander verbindet. Sie versucht auch, innerhalb des magnetischen Feldes, dessen Pole die freiheitsgläubige Romantik und der jüdische Messianismus bilden, den Einbruch aufzuzeigen, den ein neuer Geschichtsbegriff bedeutete, eine neue Wahrnehmung von Zeitlichkeit, im Widerspruch zum Evolutionismus und zur Philosophie des Fortschritts.
Derjenige, der diese ketzerische Konzeption, diesen neuen Blick auf Zeit und Geschichte am scharfsinnigsten, radikalsten, subversivsten formuliert hat, ist Walter Benjamin. Aus diesem Grund, und weil er alle Spannungen, Widersprüche und Ausweglosigkeiten der Kultur des deutschen Judentums in konzentrierter Form in sich vereinigt, nimmt er in dieser Untersuchung den zentralen Platz ein. Er steht ganz offensichtlich im Mittelpunkt dieser romantisch und messianisch gestimmten Generation; und sein Denken, das oft etwas altmodisch und in eigenartiger Weise anachronistisch erscheinen mag, ist in Wirklichkeit höchst aktuell und am stärksten erfüllt von utopisch-messianischer Explosivität. Sein Werk erhellt die Gedanken der anderen Philosophen, die wir hier versammelt haben, und wird gleichzeitig von ihnen erhellt. Es ist ein Spiel von Bildern, nicht vergleichbar mit dem der Spiegel, die sich reflektieren bis in die Unendlichkeit, eher schon das Wechselspiel der Blicke, einer den anderen befragend.
Darf ich mir, um diese Einleitung zu beenden, ein persönliches Wort erlauben? Dieses Buch bedeutet auch für seinen Autor, wandernder Jude auch er, ein Aufspüren der eigenen kulturellen und geschichtlichen Wurzeln. In Brasilien – von aus Wien stammenden Eltern – geboren, hat er in Sao Paulo, Ramat-Aviv und Manchester gelebt und ließ sich vor zwanzig Jahren (für immer?) in Paris nieder.
Meine Familie kommt aus Wien, aber die väterliche Linie, Löwy, stammt aus der tschechoslowakischen Provinz des Kaiserreichs Österreich-Ungarn. Keinerlei Verwandtschaft meines Wissens mit Julia Löwy, der Mutter von Franz Kafka: bei den Juden des Reichs war der Name ziemlich häufig …
Die Herkunft der mütterlichen Seite, Löwinger, ist ungarisch. Mit dem Budapester Bankier Joseph Löwinger, dem Vater von Georg Lukács, bin ich meines Wissens ebenfalls nicht verwandt. Obwohl ich also keine berühmten Vorfahren habe, fühle ich mich dennoch zutiefst betroffen und auch herausgefordert von diesem kulturellen Erbe, diesem geistigen Universum des mitteleuropäischen Judentums, das verloren ist, diesem erloschenen Stern, dessen gebrochenes, weit ausgreifendes Licht sich immer noch auf der Reise befindet durch Raum und Zeit, durch die Kontinente und durch die Generationen.
Als ich im Gustav Landauer-Archiv in der Bibliothek der Hebräischen Universität in Jerusalem bestimmte Texte von Walter Benjamin las, überkam mich das Gefühl, an etwas zu rühren, das unterirdisch schlummert und sich weit erstreckt. Ich habe den Plan entworfen für eine Forschungsarbeit, den ich dem inzwischen verstorbenen Gershom Scholem im Dezember 1979 vorlegte. Eine erste Version in Form eines Artikels wurde 1980 von Scholem ergänzt und korrigiert. Sie erschien 1981 unter dem Titel »Messianisme juif et utopies libertaires en Europe Centrale (1905–1923)« in den Archives de Sciences sociales des Religions, Nr. 51.
Eine erste Version des Kapitels über Walter Benjamin erschien im Oktober 1983 in Les Temps modernes unter dem Titel »Le messianisme anarchiste de Walter Benjamin«.
Ich habe die Arbeit fortgesetzt mit Hilfe des Martin Buber-Archivs in Jerusalem, des Georg Lukács-Archivs in Budapest, des Archivs des Instituts für Sozialgeschichte in Amsterdam, des Hannah Arendt-Archivs in der Library of Congress in Washington, der unveröffentlichten Hinterlassenschaft Walter Benjamins in der Bibliothèque Nationale in Paris, des Archiva des Leo Baeck Instituts in Jerusalem und New York und mit Hilfe meiner Gespräche mit Ernst Bloch (1974), Gershom Scholem (1979), Werner Kraft (1980), Pierre Missac (1982) und Leo Löwenthal (1984).
Meinen Kollegen aus der Forschungsgruppe für Religionssoziologie habe ich viel zu verdanken, vor allem Jean Séguy und Danièle Hervieu-Léger; ebenso Rachel Ertel, Rosemarie Ferenci, Claude Lefort, Sami Nair, Guy Petitdemange, Eleni Varikas, Irving Wohlfarth, Martin Jay und den leider verstorbenen Leo Löwenthal und Michel de Certeau. Sie alle gewährten mir Hilfe, Ermutigung und Kritik.
Ebenfalls Dank sagen möchte ich ganz besonders Miguel Abensour, dessen Ratschläge und kritische Stellungnahmen mir sehr nützlich waren bei der Endfassung dieses Textes.
Während ich dieses Buch schrieb, hörte ich die interessanten Vorträge über Walter Benjamin von Professor Stéphane Mosès in der Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales (Paris). Seine Überlegungen haben ohne Zweifel meine Benjamin-Interpretation und einige meiner allgemeinen Schlußfolgerungen beeinflußt.
KAPITEL 1
Zum Begriff der Wahlverwandtschaft
Hundert Jahre nach Auguste Comte verwendet die Soziologie immer noch die Terminologie der Physik und der Biologie. Wäre es nicht endlich an der Zeit, mit dieser positivistischen Tradition zu brechen und ein spirituelles und kulturelles Kapital in Anspruch zu nehmen, das reicher ist, sinnvoller, lebensnäher? Was spricht dagegen, das Fachvokabular der Sozialwissenschaften um die unerschöpfliche Ausdruckskraft des religiösen, mythologischen und literarischen Sprechens zu erweitern, nicht zu vergessen die Esoterik? Hat Max Weber den Begriff des Charisma nicht von der christlichen Theologie übernommen, hat Karl Mannheim seine »Konstellation« nicht der Astrologie entlehnt?
Die Arbeit ist eine Studie über die Wahlverwandtschaft. Der Ausdruck hat eine eigenartige Geschichte: Von der Alchimie geht er über zur