1. Im jüdischen Messianismus finden wir zwei Tendenzen, die eng miteinander verbunden und dennoch gegensätzlich sind: Eine restaurative Kraft, die auf die Wiederherstellung eines vergangenen Idealzustands, eines Goldenen Zeitalters und einer verlorenen paradiesischen Harmonie gerichtet ist, und eine utopische Kraft, die eine völlig neue Zukunft und einen Stand der Dinge erstrebt, der noch nie da war. Die Proportion zwischen diesen beiden Kräften ist variabel, aber die messianische Idee kristallisiert sich nur aus ihrer Verbindung heraus. Sie sind unauflöslich ineinander verschlungen und stehen in einem dialektischen Verhältnis, das Scholem folgendermaßen beschreibt:
»Auch das Restaurative hat utopische Momente und in der Utopie werden restaurative Momente wirksam … Das ganz Neue hat Elemente des ganz Alten, aber auch dieses Alte selber ist gar nicht das realiter Vergangene, sondern ein vom Traum Verklärtes und Verwandeltes, auf das der Strahl der Utopie gefallen ist.«5
Sigmund Mowinckel, ein anderer großer Historiker des jüdischen Messianismus, meint denselben Sachverhalt, wenn er schreibt, in der jüdischen Tradition sei »die Eschatologie eine neue Interpretation der Mythologie der Ursprungszeit«.6
Dieser Dualismus der messianischen Idee findet seinen Ausdruck im hebräischen Begriff Tikkun. Für die Kabbalisten, vor allem für Isaak Luria und die Schule von Safed, bedeutet Tikkun die Wiederherstellung der großen Harmonie, die durch den Bruch der Gefäße (shvirat hakelim) und später durch Adams Sündenfall zerstört worden ist. Nach Gershom Scholem ist Tikkun der »Weg zum Ende aller Dinge« und zugleich der »Weg zum Anfang«. Er beinhaltet die »Restitution des idealen Zustandes«, die »Wiederherstellung des ursprünglichen Ganzen«. Das Erscheinen des Messias schließt diesen Prozeß der Wiederherstellung ab und bringt Erlösung als »Rückkehr aller Dinge zu ihrem ursprünglichen Kontakt mit Gott«. Die »Welt des Tikkun« (olam hatikkun) ist die utopische Welt der messianischen Reform, wo der Makel an allen Dingen ausgelöscht und das Böse vertrieben sein wird.7
Nun finden wir aber dieselbe Verknüpfung von Restauration und Utopie auch bei den libertären Denkern – Mannheim weist ausdrücklich darauf hin.8 Bei Bakunin, Sorel, Proudhon und Landauer geht die revolutionäre Utopie immer mit der Sehnsucht nach den Lebensformen einer vorkapitalistischen Vergangenheit einher, nach den Arbeitszusammenhängen der Bauern und Handwerkerzünfte; bei Landauer gibt es eine regelrechte Verklärung des Mittelalters …
Es läßt sich nicht leugnen, daß fast alle bedeutenden anarchistischen Philosophen im tiefsten Herzen eine Sehnsucht nach der Vergangenheit in sich tragen.
Weitere Übereinstimmungen ließen sich aufzeigen. Ein zeitgenössischer Kritiker, der antimilitaristische Schriftsteller Georges Darien, beklagt sich 1904 in einem Artikel über den »religiösen Charakter des Anarchismus«, dessen Lehre er folgendermaßen charakterisiert:
a) Es war einmal ein Goldenes Zeitalter. Es ist verschwunden, als die Autorität entstand.
b) Zu diesem Goldenen Zeitalter wollen wir zurück; deshalb ist eine Revolution wünschenswert.
c) Ist die Revolution erst einmal durchgeführt, wird das Leben auf diesem Planeten für eine Weile unterbrochen sein.
d) Dann kommt das Goldene Zeitalter wieder.9
Natürlich handelt es sich um eine Karikatur, aber sie zeigt eine Dimension auf, die im Prophetentum der Anarchisten wirklich vorhanden ist. Erinnern wir uns auch an die Aussage Max Webers in Wirtschaft und Gesellschaft, der Anarchosyndikalismus sei die einzige Spielart des Sozialismus in Westeuropa, der von sich behaupten könne, einem religiösen Glauben wirklich ebenbürtig zu sein.10
Tatsächlich finden wir eine romantische, nostalgische Dimension bei allen revolutionären und antikapitalistischen Denkern. Auch die Marxisten sind nicht frei davon – obwohl gemeinhin das Gegenteil behauptet wird. Allerdings wird dieser romantische Aspekt bei Marx und seinen Schülern durch die Bewunderung relativiert, die sie der Industrialisierung und dem wirtschaftlichen Wachstum entgegenbringen. Bei den Anarchisten jedoch, die jeden technologischen Fortschritt ablehnen, manifestiert er sich mit einer Intensität, die spezifisch und einzigartig ist. Der Anarchismus ist zweifellos (mit dem russischen Narodnikitum) die revolutionäre Bewegung der Neuzeit, deren Utopie das mächtigste romantische und restitutionistische Potential enthält. Das Werk Gustav Landauers darf in dieser Hinsicht als unübertrefflicher Ausdruck des romantischen Geistes der libertären Utopie gelten.
Dieser Gesichtspunkt ist vielleicht der signifikanteste, der grundsätzlichste, der entscheidendste, was die Analogie zwischen jüdischem Messianismus und Anarchismus betrifft; er allein schon dürfte genügen, um zwischen beiden eine ganz besondere geistige Beziehung zu vermuten. Wir werden darauf zurückkommen.
2. Nach Gershom Scholem wird die Erlösung im Messianismus des Judentums im Gegensatz zum christlichen Messianismus als Ereignis betrachtet, das sich notwendigerweise auf dem Schauplatz der Geschichte ereignen muß; »öffentlich« sozusagen und in der Welt des Sichtbaren. Sie ist kein geistiger Prozeß in der Seele des Individuums, der eine im wesentlichen innere Veränderung bewirkt. Wie ist dieses »sichtbare« Ereignis also zu verstehen? Die religiöse Tradition des Judentums begreift die Ankunft des Messias als Katastrophe: »Der jüdische Messianismus ist in seinem Ursprung und Wesen, und das kann nicht stark genug betont werden, eine Katastrophentheorie. Diese Theorie betont das revolutionäre, umstürzlerische Element im Übergang von jeder historischen Gegenwart zur messianischen Zukunft.«11
Zwischen Gegenwart und Zukunft, der aktuellen Verworfenheit und der Erlösung, tut sich ein Abgrund auf; in vielen Texten des Talmud erscheint darüber hinaus der Gedanke, der Messias werde zu einer Zeit kommen, in der Sittenverderbnis und Schuldhaftigkeit am größten sind. Dieser Abgrund kann durch keine »Entwicklung«, durch keinen »Fortschritt« überwunden werden – die revolutionäre Katastrophe allein, die alle entwurzeln wird und die bestehende Ordnung der Dinge völlig zerstört, öffnet der messianischen Erlösung den Weg. Im säkularisierten Messianismus des liberalen Judentums – z. B. bei dem Neukantianer Hermann Cohen – finden wir im 19. Jahrhundert den Glauben an den stetigen Fortschritt, die allmähliche Vervollkommnung der Menschheit. Dieser Gedanke hat mit der Überlieferung der Propheten und Aggadisten nichts zu tun, die das Erscheinen des Messias immer mit allgemeiner Erschütterung und revolutionärem Sturm gleichsetzen. Wie Scholem ganz richtig betont, kennen die Bibel und die Apokalyptiker »keinen Fortschritt in der Geschichte zur Erlösung hin. Die Erlösung … ist vielmehr ein Einbruch der Transzendenz in die Geschichte, ein Einbruch, in dem die Geschichte selber zugrunde geht, in diesem Untergang sich freilich wandelnd, weil von einem Licht betroffen, das von ganz woanders her in sie strahlt.«12
Im selben Sinne beobachtete schon Max Weber in Wirtschaft und Gesellschaft, wenn er schreibt, das jüdische Volk habe immer in stummer, glühender Erwartung des großen Tages gelebt, an dem »durch eine Tat, die über Nacht kommt, deren Zeitpunkt niemand wissen … kann, Gott die Rangordnung der Erde umkehren wird in ein messianisches Reich«.13
Auf die Übereinstimmung mit den Revolutionstheorien der Neuzeit macht Scholem selbst aufmerksam: »Der Messianismus unserer Zeit beweist seine Macht im Gewand der revolutionären Apokalypse, und nicht mehr als rationalistische Utopie des ewigen Fortschritts (falls diese Bezeichnung angebracht ist), die in den Zeiten der Aufklärung ein Ersatz für die Erlösung war.« Als Erben der jüdischen Tradition bezeichnet er Ernst Bloch, Walter Benjamin, Theodor W. Adorno und Herbert Marcuse – die bedeutendsten Ideologen des revolutionären Messianismus in unserem Jahrhundert.14
Die Gültigkeit dieser Bewertung soll nicht in Abrede gestellt werden. Allerdings haben wir den Eindruck, daß die Erbschaft des jüdischen Messianismus speziell von den libertären Philosophen – zu denen auch Benjamin und der junge Bloch gehören – angetreten wurde. Tatsächlich ist der revolutionäre, katastrophische Aspekt der Befreiung im Anarchismus am deutlichsten ausgeprägt: »Die Lust des Zerstörens ist eine schaffende Lust«, schrieb Bakunin. Und Mannheim