Mit anderen Worten: wenn wir die geistigen Inhalte der deutsch-jüdischen Kultur dieser Epoche analysieren wollen, müssen wir zuvor eine soziale Gegebenheit konstatieren, die wesentlich ist: Die rasante Entwicklung des Kapitalismus und die beschleunigte Industrialisierung in Deutschland und Österreich-Ungarn in den letzten 25 Jahren des 19. Jahrhunderts. Zwischen 1870 und 1914 wandelt sich Deutschland von einem halb feudalistischen und rückständigen Land zu einem der wichtigsten Industriestaaten der Welt. Ein Beispiel dürfte genügen, um diese Veränderung zu illustrieren: Im Bereich der Stahlproduktion, einer der typischen modernen Industriezweige, produziert Deutschland, das 1860 noch hinter Frankreich und weit hinter England lag, im Jahre 1910 mehr als beide Länder zusammen! Bank- und Industriekapital verschmelzen miteinander. Mächtige Kartelle entstehen innerhalb der Textil- und Kohleindustrie, in der Eisen und Stahl verarbeitenden Industrie, der chemischen Industrie und der Elektrotechnik.1 Ein vergleichbares Phänomen, sei es auch geringeren Ausmaßes, finden wir vor in Österreich, Ungarn und der Tschechoslowakei. Die rasende Geschwindigkeit, die Brutalität, die Intensität dieser alles niederwälzenden Industrialisierung hat die mitteleuropäischen Gesellschaften erschüttert. Sie hat zur Bildung neuer politischer Systeme beigetragen, zu einer Veränderung der gesamten Werte-Hierarchie. Denken wir nur an den Aufschwung der Bourgeoisie und an die Formierung eines klassenbewußten Proletariats !
Angesichts dieses unaufhaltsamen Siegeszugs des Kapitalismus, der alles erfassenden Entwicklung im Bereich von Wissenschaft, Technik und industrieller Produktion, wo nur noch die Ware zählt und alles im Wert von Waren gemessen wird, entsteht innerhalb verschiedener gesellschaftlicher Gruppen und vor allem innerhalb der traditionellen Intelligenz eine kulturelle Reaktion, die bald verzweifelte, tragische Züge trägt, bald resignativ wirkt. Wir bezeichnen sie als romantischen Antikapitalismus.
Der romantische Antikapitalismus darf mit Romantik als Stilrichtung von Kunst und Literatur nicht verwechselt werden. Er ist eine Weltanschauung, die eine mehr oder weniger radikale Kritik an der Zivilisation der bürgerlichen Industriegesellschaft formuliert im Namen der sozialen, kulturellen, ethischen oder religiösen Werten einer präkapitalistischen Vergangenheit propagiert.2 Diese Weltanschauung bestimmt um die Jahrhundertwende in Mitteleuropa und vor allem in Deutschland das Lebensgefühl von Kulturschaffenden und Universitätsangehörigen. Die akademischen Würdenträger gehörten im vergangenen Jahrhundert zur einflußreichsten und privilegiertesten sozialen Gruppe.
Die fortschreitende Kapitalisierung der Gesellschaft droht sie in die Situation ohnmächtiger Außenseiter abzudrängen. Sie reagieren, indem sie ihren Abscheu vor einer Gesellschaft bekunden, die ihnen seelenlos erscheint, standardisiert, oberflächlich und materialistisch.3 Eines der wesentlichen Themen ihrer Kritik, die wie eine Obsession bei Schriftstellern, Dichtern, Philosophen und Historikern immer wiederkehrt, ist das der Gegenüberstellung von Kultur und Zivilisation. Während der erste Begriff ein geistiges Klima bezeichnet, das von ethischen, religiösen und ästhetischen Werten geprägt ist, steht der zweite Begriff für eine materialistische und vulgäre Welt, in der der ökonomische Fortschritt regiert. Wenn der Kapitalismus nach der unerbittlich scharfsichtigen Formulierung Max Webers die Entzauberung der Welt bedeutet, so muß der romantische Antikapitalismus vor allem als nostalgischer und verzweifelter Versuch gewertet werden, die Welt aufs neue zu verzaubern. Zu diesem Versuch gehörte im wesentlichen die Rückkehr zur Religion, die Reaktivierung der unterschiedlichsten Formen religiöser Spiritualität.
Von der Weltanschauung des romantischen Antikapitalismus zeugen eine erstaunliche Anzahl künstlerischer Werke dieser Zeit und eine Vielzahl gesellschaftlicher Bewegungen und Gruppierungen: Romane von Thomas Mann und Theodor Storm, Gedichte von Stefan George und Richard Beer-Hoffmann, die Soziologie von Tönnies, Simmel oder Mannheim, die historische Wirtschaftsschule, der Kathedersozialismus (Gustav Schmoller, Adolph Wagner, Lujo Brentano), die Philosophie von Heidegger und Spengler, Jugendbewegung und Wandervogel, der Symbolismus und der Expressionismus. Allen gemeinsam ist die Ablehnung des Kapitalismus zugunsten einer unbestimmten, rückwärtsgewandten Sehnsucht. Was ihren politischen Standpunkt betrifft finden wir die unterschiedlichsten Ansätze: Als romantische Antikapitalisten können sowohl ideologische Verfechter der Reaktion (Möller van der Bruck, Julius Langbehn, Ludwig Klages) als auch revolutionäre Utopisten wie Bloch und Landauer gelten. Was im Bereich literarischen, künstlerischen und geisteswissenschaftlichen Schaffens in Deutschland zu dieser Zeit von Bedeutung ist, konzentriert sich innerhalb des magnetischen Felds dieser Geisteshaltung.
Welche Folgen hatten die ökonomischen, sozialen und kulturellen Entwicklungen in Mitteleuropa für die jüdische Bevölkerungsschicht? Der Aufschwung des Kapitalismus begünstigt die jüdische Bourgeoisie. Die jüdischen Mitbürger verlassen ihre Ghettos und Dörfer und siedeln sich in den Städten an. Während 1867 noch 70 % aller preußischen Juden in kleinen Dörfern lebten, fällt dieser Prozentsatz 1927 auf 15 %.4 Die gleiche Entwicklung beobachten wir im Kaiserreich Österreich-Ungarn. Hier konzentriert sich die jüdische Bevölkerung in Budapest, Prag und vor allem in Wien. Als Beispiel könnte ich meine eigene Familie anführen: sowohl meine Großeltern väterlicherseits, die aus der Tschechoslowakei stammten, als auch die von seiten der Mutter (sie kamen aus Ungarn) haben ihre Dörfer gegen Ende des 19. Jahrhunderts verlassen, um sich in der Hauptstadt des Kaiserreichs niederzulassen. In den Städten etablieren sich ein jüdisches Großbürgertum und eine jüdische Mittelschicht, die ihren Einfluß im Bereich von Handel, Industrie, Bankwesen und Finanzen ständig vergrößern. Im Zuge ihres stetig wachsenden Reichtums und nach Aufhebung der alten bürgerlichen und politischen Restriktionen (in Deutschland 1869–1871) kennt diese jüdische Mittelschicht nur einen Ehrgeiz: die Assimilation, die Integration ins deutsche Volk. Ein Brief, den der Industrielle und spätere Minister der Weimarer Republik, Walther Rathenau, 1916 geschrieben hat, spiegelt diese Einstellung in charakteristischer Weise wieder: »Ich habe und kenne kein anderes Blut als deutsches, keinen anderen Stamm, kein anderes Volk als deutsches. Vertreibt man mich von meinem deutschen Boden, so bleibe ich deutsch, und es ändert sich nichts … Meine Vorfahren und ich selbst haben sich von deutschem Boden und deutschem Geist genährt … Mein Vater und ich haben keinen Gedanken gehabt, der nicht für Deutschland und deutsch war …«5
Natürlich stellt dieses Beispiel fast einen Grenzfall dar, aber selbst für diejenigen, die sich weiterhin als Juden definierten, war die deutsche Kultur die einzig wertvolle. Vom Judentum blieben nur einige rituelle Überbleibsel wie der Besuch in der Synagoge zum Jom-Kippur-Fest und der alttestamentliche Monotheismus. Als ideale, beispielhafte Weisheitslehrer galten nicht mehr Moses oder Salomon, sondern Lessing und Goethe, Schiller und Kant. Vor allem Schiller wurde regelrecht verehrt. Seine Gesammelten Werke standen in der Bibliothek jedes deutschen oder österreichischen Juden, der etwas auf sich hielt. (Als meine Eltern Wien 1938 verlassen mußten, haben sie ihre Schiller-Ausgabe mitgenommen …) Die konsequentesten Verfechter der Assimilation waren in Deutschland die Mitglieder des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens. Zu diesem sozialen Milieu gehörte auch die Familie Gershom Scholems. Er schreibt dazu: »Die Bildung und Lektüre lagen ausschließlich im deutschen Kulturbereich, und ein Ausbruch aus ihm, besonders gar ins Jüdische zurück, begegnete in den meisten Fällen starken Widerständen. Die Assimilation ging sehr weit. Es wurde immer wieder betont, wenn auch in verschiedenen Nuancen, daß man dem deutschen Volk zugehöre und darin nichts weiter als eine Konfession bilde, wie andere auch. Das war um so paradoxer, als ja gerade das religiöse Moment, das angeblich den einzigen Unterscheidungspunkt bildete, in den meisten Fällen gar nicht vorhanden war und auf die Lebensführung