Für den jüdischen Intellektuellen der »romantischen Generation« der Jahre 1880, der manchmal die halböffentlichen Kreise frequentierte, in denen der romantische Antikapitalismus erstmals in Begriffe gefaßt wurde (Lukács und Bloch besuchten den Kreis um Max Weber in Heidelberg), stellte sich sofort ein ganz bestimmtes Problem. Der Traum von der Vergangenheit, das wesentliche der romantischen Position, wurde von Assoziationen genährt, die über deutsches Nationalbewußtsein hinaus eine gemeinsame Geschichte und Religion, vielleicht sogar die Zugehörigkeit zur Aristokratie, voraussetzten.
Wie aber sah die Beziehung eines Juden zum Germanentum der Vorfahren aus, zum mittelalterlichen Adel, zum protestantischen oder katholischen Christentum? Von diesem allen Deutschen gemeinsamen kulturellen Erbe war er völlig ausgeschlossen. Es ist richtig, daß bestimmten jüdischen Intellektuellen der Sprung gelang, vor allem die Mitglieder des Kreises um Stefan George waren hier sehr erfindungsreich. Rudolf Borchardt wandelte sich zum deutschen Nationalisten; Friedrich Gundolf und Karl Wolfskehl zu konservativen Germanisten, Hans Ehrenberg zum protestantischen Theologen. Aber derart extreme Fälle kamen selten vor, sie lassen auf eine einigermaßen künstliche, selbstentfremdende Entwicklung und eine völlige Verneinung der jüdischen Identität schließen. Eine nicht zu überbietende Manifestation dieser Haltung liegt uns vor im Werk jüdischer Antisemiten wie Otto Weininger und Theodor Lessing. Für die anderen und damit für die Mehrzahl gab es im Rahmen der Neuromantik nur zwei mögliche Auswege: entweder die Rückkehr zu den eigenen historischen Wurzeln, zur eigenen Kultur und zur Nationalität und Religion der eigenen Ahnen, oder der Glaube an eine romantische und revolutionäre Utopie, die universellen Charakter hatte. Es ist nicht erstaunlich, daß eine Anzahl jüdischer Denker deutscher Sprache, die als Anhänger des romantischen Antikapitalismus gelten können, beide Wege gleichzeitig wählten. Sie entdeckten die jüdische Religion für sich neu, vor allem die restaurativen und utopischen Tendenzen des Messianismus, und sympathisierten bzw. identifizierten sich sogar mit revolutionärem, utopischem Gedankengut, das in gleicher Weise von Sehnsucht nach der Vergangenheit erfüllt war. Wie wir oben bereits gezeigt haben, entsprachen beide Tendenzen in struktureller Hinsicht einander.
Sehen wir uns die Wege näher an, die sie gingen. In der religiösen Atmosphäre der Neuromantik revoltieren viele jüdische Intellektuelle gegen die Assimilation ihrer Eltern und versuchen, die religiöse Kultur der Vergangenheit vor dem Vergessen zu bewahren. So vollzieht sich eine De-Säkularisation, eine (partielle) Dissimilation, eine kulturelle und religiöse Anamnese, eine »An-Akkulturation«.18 Es gab Kreise und Vereinigungen, die hier als treibende Kräfte wirkten: der Club Bar Kochba in Prag, zu dessen Mitgliedern Hugo Bergmann, Hans Kohn und Max Brod zählten, der Kreis um den Rabbiner Nobel in Frankfurt (Siegfried Kracauer, Erich Fromm, Leo Löwenthal, Ernst Simon), das Freie Jüdische Lehrhaus mit Franz Rosenzweig, Gerhard Scholem, Nahum Glatzer, Margarete Süssmann, die Zeitschrift Martin Bubers Der Jude usw. Aber diese »An-Akkulturation« erfaßt noch weitaus breitere Bereiche der Gesellschaft. Eine Vielzahl der von der Neuromantik beeinflußten jüdischen Intellektuellen sind von ihr betroffen. Sie trägt manchmal nationale Züge, vor allem durch den Zionismus, aber ihr vorherrschendes Charakteristikum ist die Hinwendung zur Religiosität. Die Auswirkungen der Assimilation gehen so tief, daß es äußerst schwierig ist, mit dem deutschen Nationalbewußtsein zu brechen. Im Rahmen des fortgeschrittenen Assimilierungsprozesses in Mitteleuropa verbleibt die Religion als einzig legitimes Merkmal für die »deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens«. Demnach ist es verständlich, daß sie schnell zum wichtigsten Ausdrucksmittel der kulturellen Rückbesinnung wird.
Dennoch handelt es sich um eine neue Form von Religiosität. Sie ist geprägt von der Spiritualität der deutschen Romantik und sehr verschieden vom rituellen Traditionalismus des orthodoxen Judentums, das von der Assimilation nie betroffen war. Das Paradoxe dabei ist, daß diese jungen Intellektuellen ihre eigene Religion erst über die Vermittlung der deutschen Neuromantik entdecken. Ihr Weg zum Propheten Jesaja führt über Novalis, Hölderlin und Schelling. Mit anderen Worten, ihre Assimilation und Akkulturation wird zur Vorbedingung und zum Ausgangspunkt für den Prozeß der Dissimilation und An-Akkulturation. Es ist kein Zufall, daß Buber vor der Konzeption seiner chassidischen Schriften19 über Jakob Böhme geschrieben hat und Franz Rosenzweig sich fast zum Protestantismus bekehrt hätte, bevor er zum Erneuerer der jüdischen Theologie wurde. Gustav Landauer hat die mystischen Schriften Meister Eckharts übersetzt, bevor er sich der jüdischen Tradition zuwandte, und Gershom Scholem hat die Kabbala dank der Werke des deutschen Romantikers Franz Joseph Molitor wiederentdeckt. Das Erbe der jüdischen Religion wird wahrgenommen durch die Gläser einer von der Romantik blau getönten Brille, was die Empfänglichkeit für ihre irrationalen Züge natürlich erhöht, ihren jeder Institutionalisierung feindlich gesonnenen Impetus und ihre mystischen, explosiven, apokalyptischen Aspekte. In seinem ersten, 1919 veröffentlichten Artikel über die Kabbala verwendet Scholem ganz gezielt den Begriff »antibürgerlich«. Der Messianismus konzentriert wie ein Brennspiegel das gesamte Sturm- und Drang-Potential des Judentums in sich, was natürlich voraussetzt, daß auf seine liberale, neukantianische und aufklärerische Interpretation verzichtet wird, die das messianische Zeitalter in der allmählich fortschreitenden Vervollkommnung der Menschheit verwirklicht sieht. Das Judentum entdeckt dieses Lebensgefühl nun für sich. Was hier neu betont wird ist die ungeheure eschatologische Kraft der originären Tradition, von den Propheten bis zur Kabbala und vom Alten Testament bis hin zu Sabbatai Zwi. So wird der jüdische Messianismus mit seinen beiden Antriebskräften Restauration und Utopie zum Schibboleth der religiösen Rückbesinnung der um das Jahr 1880 geborenen jüdischen Romantiker. Und daß aus der romantischen Explosivität dieses neuen Messianismus eine größere Bereitschaft zur politischen Veränderung entsteht als aus dem rabbinischen Messianismus des orthodoxen Judentums, das sich in politischen Dingen vor allem ruhig verhielt und niemals Bereitschaft zur aktiven Parteinahme zeigte, ist evident.
Wie geht die politische Aktivierung dieser jungen jüdischen Intellektuellen vor sich? Wie läßt sich ihre Anhängerschaft an revolutionäre Utopien erklären?
Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir etwas weiter ausholen. Zuerst gilt es festzuhalten, daß sich jüdische Intellektuelle von der linken Bewegung und von sozialistischem Gedankengut generell angezogen fühlten. Historische Forschungen bestätigen, daß es sich bei einer Mehrzahl der jüdischen Linken in Mitteleuropa um Intellektuelle handelte.20 In Osteuropa, wo ein jüdisches Proletariat existierte, sah die Sache anders aus.
Der Antisemitismus erklärt dieses Phänomen auf seine Weise: Der heimatlose und kosmopolitische Jude tendiert instinktiv zum roten Internationalismus. Dieser Gemeinplatz ist offensichtlich falsch; die Mehrheit der Juden waren gute deutsche oder österreichische Patrioten, aber wahrscheinlich machte das Spannungsverhältnis von Assimilation und sozialer Verachtung und Marginalisierung im Rahmen der Volksgemeinschaft die jüdischen Intellektuellen sensibler für den internationalistischen Anspruch des Sozialismus als ihre nichtjüdischen Kollegen. Die Intelligenz spürte die Paria-Situation deutlicher als jüdisches Bürgertum und jüdische Geschäftswelt, litt stärker unter dem Antisemitismus, der sie überall umgab, unter der beruflichen und sozialen Diskriminierung. Hannah Arendt schreibt, diese neue Schicht von Intellektuellen sei der Welle antijüdischen Hasses um die Jahrhundertwende besonders stark ausgeliefert gewesen. »Ohne Schutz und Verteidigung« (»exposed without shelter and defense«) waren sie gezwungen, ihren täglichen Lebensunterhalt und ihre Selbstachtung außerhalb der jüdischen Gemeinschaft zu suchen; so entwickelt sich in ihrer Mitte ein rebellisches »Paria-Bewußtsein«, das in scharfem Gegensatz steht zur konformistischen Haltung des Parvenu.21
Für den Paria gibt es nur zwei Möglichkeiten: