Der Typ des revolutionären Juden ist in der politischen und kulturellen Szene Westeuropas praktisch nicht existent. Eine Ausnahme bilden hier die Juden, die, aus Osteuropa stammend, in England und auch in den Vereinigten Staaten zu ausgebeuteten Proletariern wurden. Aus dieser Gesellschaftsschicht kommen gegen Ende des 19. Jahrhunderts die militanten Anarchisten und Sozialisten. Die Juden aus altem westeuropäischem Stamm hingegen sind national und kulturell völlig assimiliert und soziale und politische Konformisten. Die Intellektuellen aus diesen Kreisen identifizieren sich gänzlich mit dem vorherrschenden bürgerlichen Liberalismus. Die Quellen für ihre Integration liegen in den bürgerlichen Revolutionen, die in Holland seit dem 16. Jahrhundert, in England seit dem 17. Jahrhundert und in Frankreich seit 1789 zur Emanzipation der Juden führten und deren wirtschaftliche, soziale und politische Integration in die kapitalistische Gesellschaft möglich machten. Wenn der revolutionäre Jude in Mittel- und Osteuropa auftaucht, so ist das vor allem zurückzuführen auf die Verzögerung oder das Scheitern der bürgerlichen Revolution in diesem Teil des Kontinents und auf die Verzögerung der kapitalistischen Entwicklung. Deren Resultat ist der begrenzte Charakter der jüdischen Emanzipation und Assimilation und die Paria-Situation der jüdischen Bevölkerung.
Der romantische, revolutionäre Messianismus hat die jüdische Intelligenz des Westens kalt gelassen. Die polemischen, rationalistisch-liberal geprägten Schriften, die heftig Stellung beziehen gegen diesen Typ von religiöser Utopie, stammen von jüdischen Intellektuellen englischer Muttersprache, zum Beispiel das Buch des 1915 in London geborenen Norman Cohn: The Pursuit of the Millenium. Revolutionary millenarians and mystical anarchists of the Middle Ages (London, Secker & Warburg, 1957) oder das eines ehemaligen Beamten des Foreign Office, Jakob Talmon: Political Messianism. The Romantic Phase (London, Secker & Warburg, 1960).
Den einzigen Riß im System von Assimilation und Integration im Westen bildet vor dem Zweiten Weltkrieg die Dreyfus-Affäre, aber dieses traumatische Ereignis vermochte den Glauben des französischen Judentums an die Werte des Bürgertums, der Republik und des Vaterlandes nicht zu erschüttern. Dennoch hat die Dreyfus-Affäre das Auftauchen einer revolutionären Figur ermöglicht, die den libertären Messianismus in außergewöhnlicher Weise markiert: Bernard Lazare. Er ist wahrscheinlich der einzige jüdische Denker im Westen, der mit Buber oder Landauer verglichen werden kann. Aber er war notwendigerweise dazu verurteilt, isoliert zu bleiben, verachtet und mißverstanden von der großen Mehrheit der französischen Juden.26
In Osteuropa sieht die Situation jedoch ganz anders aus, vor allem im russischen Reich, das vor 1918 auch Polen und die baltischen Staaten umfaßte. Die Teilnahme der Juden an den revolutionären Bewegungen ist hier viel massiver als in Mitteleuropa und im Gegensatz zu Deutschland blieb sie nicht auf die Intellektuellen beschränkt. Das ganze jüdische Proletariat organisiert sich im Bund oder hält es mit den beiden Fraktionen der SDAPR (Sozialdemokratische Arbeiterpartei Rußlands): den Bolschewiki und den Menschewiki. Dies ist leicht zu erklären durch den höheren Grad an Unterdrückung, die andersartige soziale Zusammensetzung der jüdischen Bevölkerung, die zum größten Teil aus pauperisierten Arbeitern besteht, und die Gewalttätigkeit des überall dominierenden Antisemitismus. Mit einem Wort, die Paria-Situation der Juden im Zarenreich ist unvergleichlich brutaler als in Mitteleuropa. In allen revolutionären Bewegungen Osteuropas findet man eine Vielzahl jüdischer Intellektueller unterschiedlichster Couleur.
Als Sozialisten, Marxisten oder Anarchisten besetzen sie leitende Positionen und üben Einfluß als Organisatoren, Ideologen und Theoretiker aus. Nach Leopold H. Haimson stand die herausragende Rolle der russischen Juden innerhalb der revolutionären Intelligenz in keinem Verhältnis zu ihrem prozentualen Anteil an der Gesamtbevölkerung.27
Die bekanntesten von ihnen bilden nur die sichtbare Spitze des Eisbergs: Leo D. Trotzki (Bronstein), Rosa Luxemburg, Leo Jogiches, Julius Martow (Zederbaum), Raphael Abramowitsch, Leo Deutsch, Pawel Axelrod, Mark Liber (Goldman), Fjodor Dan (Gurwitsch), Leo Kamenew (Rosenfeld), Karl Radek (Sobelsohn), Gregori Sinowjew (Radomylski), Jakow Sverdlow, David Rjasanow (Goldendach), Maxim Litwinow (Wallach), Adolph Joffe, Michail Borodin (Grusenberg), Adolf Warsawski, Isaac Deutscher usw. Nicht zu sprechen von den sozialistischen jüdischen Organisationen wie dem Bund und den linken Zionisten sowie den Juden, die, aus dem Osten stammend, in der revolutionären Arbeiterbewegung in Deutschland gewirkt haben. Außer Rosa Luxemburg und Leo Jogiches sind hier Parvus (Israel Helphand), Arkadi Maslow (Isaak Tschereminski), August Kleine (Samuel Haifiz) und andere zu verzeichnen, in England gehören Aron Lieberman und Lazar Goldenberg zu den aktiven Revolutionären, in den Vereinigten Staaten finden wir Emma Goldman, Alexander Berkman und S. Yanofsky.
Diese revolutionären Führer und Ideologen haben ganz verschiedene, wenn nicht entgegengesetzte politische Ansichten. Ihre Beziehung zum Judentum reicht von totaler und bewußter Assimilation im Namen des Internationalismus bis zu jüdischem Nationalbewußtsein und stolzer Identifikation mit der jüdischen Kultur. Dennoch haben alle eines gemeinsam: Die Ablehnung des Judentums als Religion. Ihre Weltanschauung ist immer rationalistisch, atheistisch, säkular, sie sind Aufklärer und Materialisten. Die Überlieferungen der jüdischen Religion, die Mystik der Kabbala, der Chassidismus, der Messianismus interessieren sie nicht. In ihren Augen sind das nur obskurantistische Überbleibsel der Vergangenheit, reaktionäre, mittelalterliche Ideologien, derer man sich so schnell wie möglich entledigen sollte, um der Wissenschaft und dem Fortschritt zu dienen. Wenn ein jiddischer Schriftsteller mit revolutionärer Gesinnung wie Moische Kulback mit einer Mischung aus Faszination, Angewidertsein und Nostalgie über den Messianismus schreibt, so geschieht dies vor allem, um die traurige Rolle eines falschen Messias wie Jakob Frank zu beleuchten, der seine Anhänger ins Verderben stürzte.28 Eine aus Rußland stammende Anarchistin wie Emma Goldman ist weit entfernt von der mystischen Spiritualität eines Gustav Landauer. Im Denkgebäude ihres libertären Universalismus ist kein Platz für jüdisches Nationalbewußtsein, und die Religion – sei sie nun jüdisch oder christlich – gehört in den Bereich des Aberglaubens. Der erste Besuch in der Synagoge hinterläßt bestenfalls – wie beim Bundisten Medem – einen tiefen Eindruck wegen der großen Schönheit, die den leidenschaftlichen Gefühlen der Menge innewohnt. Der religiöse Sinn des Kultes bleibt ihm fremd.29 Die Begeisterung der jüdischen revolutionären Intellektuellen für den Atheismus und die Wissenschaften zeigt am besten diese Episode: Leo Jogiches, der die ersten Zirkel für jüdische Arbeiter in Wilna organisiert, beginnt seine Aktivitäten als politischer Erzieher mit einer Vorlesung über … Anatomie und bringt seinen Schülern ein echtes Skelett mit …30
Viele Historiker glauben, die Überzeugungen dieser russischen jüdischen Intellektuellen seien säkularisierter Ausdruck des Messianismus, materialistische und atheistische Manifestation von geistigen Strukturen, die das Erbe einer mehrere tausend Jahre alten religiösen Tradition sind. Dies ist eine Hypothese, die sich in mehreren Fällen als richtig herausstellen kann. Aber für die meisten der erwähnten Marxisten und Anarchisten ist sie unwahrscheinlich, denn nach ihrer Erziehung und ihrem sozialen und familiären Milieu waren sie so assimiliert, so wenig religiös, daß man eine konkrete kulturelle Verbindung mit dem messianischen Erbe vergeblich suchen wird. Jedenfalls enthält ihr Denken im Gegensatz zu dem vieler jüdischer Revolutionäre in Mitteleuropa nicht den geringsten Hinweis auf die Religion und nicht die geringste sichtbare Spur einer messianischen, religiösen Dimension.
Wie läßt sich dieser Unterschied zwischen der Weltanschauung der jüdischen Intelligenz Mitteleuropas und der des Zarenreichs erklären? Die Mehrzahl der jüdischen revolutionären Intellektuellen des Ostens stammt aus aufgeklärten, assimilierten, in religiösen Belangen indifferenten Familien. Einige von ihnen sind in den drei Städten geboren oder aufgewachsen, die die Bastionen der Haskala in Rußland bildeten: Odessa (Martow, Trotzki, Parvus), Wilna (Jogiches), Zamosc Rosa Luxemburg). Vielleicht sollten wir uns zuerst mit den Unterschieden zwischen der Haskala in Deutschland und in Rußland beschäftigen. Unter Haskala versteht man die Öffnung der jüdischen Religion für die rationalistische Philosophie der Aufklärung, wie sie gegen Ende des 18. Jahrhunderts in Berlin von dem jüdischen Philosophen Moses Mendelssohn eingeleitet wurde. Rachel Ertel zeigt in ihrer Untersuchung über das Schtetl, daß die Haskala