Mit Mutter Kretschmer ging es zu Ende. Wohl hörte sie noch die freundlichen Worte, die Frau Bender an die Sterbende richtete, wohl blickten die halbgebrochenen Augen nochmals suchend nach der Tür.
»Der Jule –«
»Der Jule wird bald hier sein, Mutter Kretschmer«, tröstete Frau Bender. »Bleiben Sie ganz ruhig liegen, ich bin bei Ihnen und verlasse Sie nicht.«
»Verlassen Sie auch den Jule nicht, er soll ein ordentlicher Mensch, ein tüchtiger Handwerker werden – er soll seine Mutter lieb behalten.«
»Nicht so viel reden, Mutter Kretschmer. Der Jule wird gewiß ein braver Mann werden. Sie dürfen jetzt nicht so viel reden, recht ruhig liegenbleiben.«
Eine zitternde Hand tastete sich zu der Frau Benders.
»Mein Jule, mein lieber, guter Junge!«
Zehn Minuten später war das Lebenslicht der alten Frau erloschen. Friedlich ruhte Mutter Kretschmer in den Kissen, Frau Bender drückte der Entschlafenen die Augen zu. Wie schmerzlich würde es für Jule sein, wenn er hörte, daß die Mutter in ihrer letzten Stunde immer wieder nach dem Sohne ausgeschaut hatte, der nicht gekommen war.
Am Morgen des nächsten Tages fragte man bei Meister Reichardt an, ob sich der Jule eingefunden habe. Niemand hatte ihn gesehen. Pommerle hörte auch davon, es vernahm auch, daß Frau Kretschmer gestorben sei, und eine unerklärliche Angst legte sich auf das Herz des Kindes.
»Er hat mir gesagt, ich darf nichts verraten, aber er ist gestern nacht in den Hausberg gegangen, um Geld zu holen. Er will nach Amerika gehen.«
Professor Bender und seine Frau forschten weiter, und Pommerle erzählte nun alles. Tiefe Trauer bemächtigte sich Frau Benders. An dem Tage, an dem der Knabe sich mit schlechten Gedanken trug, an dem er seinem Lehrmeister ausreißen wollte, war seine Mutter gestorben. Noch in ihrer letzten Stunde hatte sie gehofft, daß der Jule ein tüchtiger Mensch, ein fleißiger Handwerker werden würde. Nun war sie tot, und wenn der Jule wiederkam, hatten sich die Lippen seiner Mutter für immer geschlossen. Niemals würde er mehr ein liebevolles Wort aus Muttermund hören.
Aber auch Pommerle war tief niedergeschlagen. Dem Jule war die Mutter gestorben. Das war dasselbe wie damals, als ihm der Vater genommen war. All der Schmerz und das Leid, das Pommerle damals durchlebt hatte, erwachte erneut in dem Kinderherzen. Pommerle ging in sein Zimmerchen, legte sich die Puppe auf den Schoß, nahm den Gummifrosch in den Arm; dann tropfte Träne auf Träne aus den Kinderaugen.
»Vater, Vater! Jule, nun hast du keine Mutter mehr und keinen Vater, nun ist sie tot, die gute Mutter Kretschmer. Ich möchte an die Ostsee!«
Professor Bender entdeckte am Mittag den Jule, der sich gerade nach dem Geräteschuppen des Benderschen Hauses schlich. Dort wollte der übermüdete Knabe ausruhen. Schweigend nahm der Professor den Knaben am Arm, führte ihn ins Haus, hinein in sein Zimmer.
Frau Bender wurde erst aufmerksam, als sie wildes Kinderweinen hörte. Sie horchte, kam näher und hörte den Jule.
»Tot ist sie!«
Da ging sie hinein ins Zimmer, nahm den Knaben in die Arme und drückte ihn fest an sich.
»Nun laß dir sagen, mein liebes Kind, was mir deine Mutter in ihrer letzten Stunde zuflüsterte. Sie hat sehr nach dir verlangt, nach ihrem lieben, guten Jule. Wärest du Meister Reichardt nicht fortgelaufen, hättest du ihr zum Abschied die Hand drücken dürfen. Aber du warst nicht da. Jule, deine tote Mutter erwartet von dir, daß du ein tüchtiger Mensch, ein fleißiger Handwerker werden sollst.«
»Ich will zur Mutter!« Das war nicht mehr der fünfzehnjährige Lehrling, es war ein hilfloser Knabe, der plötzlich erkannte, daß ihm der gestrige Tag das Beste, was es auf der Erde für ihn gab, geraubt hatte. »Ich will zur Mutter!«
»Du wirst zuerst etwas essen, Jule, dann gehen wir zusammen hin.«
Aber der Knabe aß nichts. Die Tränen strömten ihm über die Wangen. Er versuchte, zwar einige Bissen hinunterzuwürgen, es ging nicht. Nochmals schaute Frau Bender nach Pommerle. Auch hier ein weinendes Kind.
»Komm zum Onkel, mein Pommerle. Der Jule geht jetzt mit mir zu seiner Mutter.«
»Ich möchte zum Vater!«
»Sei vernünftig, mein liebes Kind, der Onkel wartet schon auf dich.«
Sie ging und barg das verweinte Köpfchen an der Brust des treuen Beschützers. – –
Da stand nun der Jule vor der entschlafenen Mutter, würgte und schluckte die immer neu hervorbrechenden Tränen herunter.
Endlich mahnte Frau Bender leise:
»So, mein liebes Kind, nun gib noch einmal deiner Mutter die Hand, ihre letzten Worte waren ein Segen für dich, ihr letzter Wunsch war der, daß du gut und brav werden sollst. Vor einiger Zeit hast du Professor Bender versprochen, du wolltest ein braver Handwerker werden. Du hast dein gegebenes Wort bisher schlecht gehalten, Jule. Ich denke, nun wird es anders werden. Ich weiß, daß die Lehrzeit eine schwere Zeit ist. Besonders für dich, der du daran gewöhnt bist, frei herumzustreifen, für dich ist das Stillsitzen eine schwierige Aufgabe. Aber schau die Lehrzeit mit frohen Augen an, denke an deine gute Mutter, denke auch daran, daß sie segnend auf dich herniederblickt. Nun sieh mich einmal an, Jule, und sage mir ehrlich: Wirst du wieder zu Meister Reichardt zurückkehren und fleißig sein?«
»Ich will ein tüchtiger Handwerker werden!« stieß Jule unter heftigem Schluchzen hervor. Dann wandte er sich wieder der toten Mutter zu, und wieder klang es leise und kläglich: »Ja, ich will ein tüchtiger Handwerker werden.«
Drei Tage später trug man Mutter Kretschmer zu Grabe.
Jule war merkwürdig gefaßt. Nur von Zeit zu Zeit kam ein Schluchzen aus seiner Brust. Aber wenn er dann die liebevollen Hände Frau Benders fühlte, klammerte er sich fest an sie, als könne sie ihm ein wenig das Verlorene ersetzen.
Meister Reichardt hatte Jule ohne jeden Vorwurf wieder aufgenommen. Der Tod der Mutter hatte einen tiefen Eindruck auf den Knaben gemacht. Jule nahm sich nach Kräften zusammen. Er war anfangs sehr still und in sich gekehrt, mitunter kam es vor, daß er ganz plötzlich das Handwerkszeug fortwarf und aus der Werkstatt lief. Einmal war ihm der Meister nachgegangen, hatte den weinenden Knaben im Hofe gefunden und war schweigend wieder zurückgegangen. Es war wohl am besten, wenn Jule diese seelischen Erschütterungen allein durchkämpfte.
Professor Bender hatte die Vormundschaft über den Knaben übernommen. Es war mit Meister Reichardt ausgemacht worden, daß Jule die Sonntage im Benderschen Hause verbrachte.
Pommerle schien sich noch inniger an Jule angeschlossen zu haben. Die Kinderaugen hingen mit rührender Zärtlichkeit an dem großen Spielgefährten, und manches Stück Schokolade, mancher Apfel wurden ihm zugesteckt; dann freute sich Pommerle, wenn über Jules Gesicht ein Lächeln ging.
Waren die beiden Kinder zusammen, sprachen sie oft von den toten Eltern.
»Keiner ist mehr da«, sagte Jule, »der so lieb zu mir spricht wie sie. Sie hat mich so oft gestreichelt. Sie hat mich ihr Julchen genannt, nun ist sie tot.«
»Ich will dich immer Julchen nennen und dich immerzu streicheln, Jule. Ich will so gut zu dir sein wie deine Mutter.«
»Ja, aber deswegen bist du doch nicht meine Mutter. Jetzt weiß ich erst, wie gut sie war. Ich war auch oft häßlich zu ihr. Wenn sie nochmals wiederkäme, ich wollte niemals garstig zu ihr sein.«
An einem der nächsten Sonntage legte Pommerle vor den Freund ein aufgeschlagenes Buch hin.
»Ich habe ein schönes Gedicht gefunden.« Dann lasen sie zusammen die Verse:
»Wenn du noch eine Mutter hast,
So danke Gott und sei zufrieden,
Nicht jedem auf dem Erdenrund