Frau Professor Bender überlegte einige Augenblicke. Es gab von dem Hausberg, der sich unweit der Stadt Hirschberg erhob, eine Sage, die sie aber nicht mehr kannte. Pommerle schien das besser zu wissen, obgleich das Kind erst seit knapp zwei Jahren in Schlesien lebte.
»Was will denn der Kilian im Hausberg, mein Kind?«
»'raus möcht' er, aber er kann nicht. Eines Tages, als er mal spazierenging, sah er im Berg ein großes Loch. Dort ist er 'reingegangen. Da hat er einen Haufen Gold und Silber gefunden. Er hat sich alle Taschen vollgestopft, ist wieder aus dem Berg herausgelaufen und hat dann furchtbar fein gelebt. Immer nur Flundern gegessen und Champagner dazu getrunken. Aber nach einigen Tagen hat er das ganze Gold aufgegessen gehabt. Da ist er wieder zum Hausberg gegangen. Wieder war das große Loch da, und dann hat er sich noch mal einen Haufen Gold und Silber geholt. Lauter blanke Fünfmarkstücke. Dann hat er wieder furchtbar fein gegessen, jeden Tag ist er ins Kino gegangen, da hat er bald wieder kein Geld gehabt. Als er dann zum drittenmal in das dunkle Loch ging, gab es einen Krach, der Berg schob sich zusammen; und nun ist der Kilian in dem Berg und kann nicht 'raus. Da hat die Uhse Minna Angst, daß uns auch mal was zustoßen könnte. – Nicht wahr, liebe Tante, der Kilian sitzt doch nicht in dem Hausberge? Das erzählen die Leute nur so.«
»Hast recht, Pommerle, das ist eine Sage, weiter nichts.«
»Wenn ich mal solch ein großes Loch in einem Berge sehen würde, ich ginge auch hinein. Oh, ich holte mir dann auch alle Fünfmarkstücke heraus, die dort liegen, und dann – –«, das Kindergesicht nahm einen verklärten Ausdruck an, »dann kaufte ich mir auch viele Flundern und ein Auto. Dann würde ich schnell mal wieder an die Ostsee fahren. Dort schenkte ich der Elli Götsch und der Grete Bauer eine Perlenkette, und dem Otto Jäger kaufte ich ein Paar hohe Wasserstiefel. – Ach, das wäre fein!«
»Es geht auch ohne die Fünfmarkstücke, Pommerle. Du hast ja alles, was du brauchst, mein Kind.«
»Aber wenn ich viele Fünfmarkstücke hätte, wie der Kilian, würde ich mir doch ein Auto kaufen und immerfort Flundern essen.«
»Du bekommst morgen auch Flundern, kleines Mädchen. Sei hübsch zufrieden, Pommerle, man muß nicht immer mehr verlangen, als man hat. Zufriedenheit ist das beste Gut. Wenn man zufrieden ist, fühlt man sich glücklich und froh.«
Pommerle schlang beide Arme um den Hals der Tante. »Oh, ich bin ja zufrieden, aber – viele blanke Fünfmarkstücke möchte ich doch gern haben.« –
Als sich die acht Mädchen am Nachmittag versammelten, um gemeinsam die Wanderung anzutreten, kam die Rede natürlich wieder auf den sagenhaften Hausberg. Die blonde Minna meinte, man höre den Kilian im Berge rufen und schreien. Es sei doch besser, man ginge ein Stück weiter, denn es wäre schrecklich, wenn der Kilian plötzlich, rot vor Wut, aus dem Berge gesprungen käme. Er wäre sicherlich fürchterlich anzusehen, weil er schon über tausend Jahre darin säße und sich in der Zeit nicht ein einziges Mal gewaschen hätte.
Minna wußte schließlich alles so schaurig darzustellen, daß selbst dem mutigen Pommerle das Herz zu klopfen anfing; scheuen Blickes ging man eilig am Hausberg vorüber und weiter, um an anderer Stelle Wiesenblumen für den Lehrer zu pflücken.
Man fand nichts Rechtes. Die Blumen, die jetzt noch blühten, erschienen den Kindern nicht geeignet. Es sollte doch etwas Besonderes sein. Pommerle meinte daher, es wäre wohl besser, wenn man den Strauß aus den Blumen herstellte, die noch im Garten des Onkels blühten.
Emma Hübner wehrte ab. Der Lehrer habe doch selbst einen Garten mit Blumen, ihm wäre ein Strauß aus Wiesenblumen gewiß lieber.
Weiter und weiter lief die kleine Schar, bis Pommerle plötzlich stehenblieb und mit heller Stimme rief:
»Seht doch die vielen Preiselbeeren. Wir schenken ihm Preiselbeeren!«
Dieser Vorschlag fand sogleich begeisterte Zustimmung. Blumen hatte der Lehrer im Garten, aber Preiselbeeren würde er sich sicherlich nicht pflücken. Außerdem hatte er erst kürzlich gesagt, daß er Preiselbeeren zu Eierkuchen sehr gern äße.
Kaum fünf Minuten später waren die acht Kinder dabei, die roten Beeren abzupflücken. Da man keine Behälter mitgenommen hatte, wurden einfach Mützen und Hüte benutzt, und bald war Pommerles Baskenmütze fast bis zur Hälfte mit roten, schönen Beeren angefüllt.
»Oh, wird ihm das schmecken!« sagte Pommerle, die Beeren betrachtend und einige davon in den Mund schiebend. »Wird er Freude daran haben! Nun kann er eine Woche lang jeden Mittag Eierkuchen und Preiselbeeren essen.«
Mit größtem Eifer wurde weitergepflückt, bis plötzlich eins der Mädchen rief:
»Jetzt fängt es an zu regnen!«
Niemand hatte es bemerkt, daß sich der Himmel mit dunklen Wolken überzogen hatte.
»Paßt mal auf, gleich pladdert es los«, sagte Minna. »Was machen wir nun? Wir werden naß wie die Katzen.«
»Wir laufen im Galopp nach Hause«, meinte Pommerle.
»Das ist viel zu weit!«
»Dann gehen wir eben zum Harfen-Karle.«
Pommerle horchte auf. Das war ihm ein ganz neuer Name. Vom Harfen-Karle hatte es noch nie etwas gehört.
»Wo ist er?«
»Der hat dort drüben ein kleines Häusel, darin wohnt er schon immer. Im ganzen Hirschberger Tal kennt man ihn.«
»Was macht er denn?«
»Er ist alt.«
»Er muß doch aber was tun«, meinte Pommerle.
»Nein, der tut nichts, er sitzt immer nur in der Sonne.«
»Und was macht er, wenn's regnet?«
»Dann sitzt er in der Stube.«
Nachdenklich blickte Pommerle nach der Richtung hinüber, in der das kleine Häuschen des Harfen-Karle stehen sollte. Aber es gab kein langes Überlegen mehr, denn der Regen setzte plötzlich mit ungeahnter Heftigkeit ein. Zwei der Kinder liefen voran, die anderen folgten, ohne lange zu überlegen.
Schließlich sah man auch am Waldrande ein kleines Haus, mehr eine Hütte, die einen recht dürftigen Eindruck machte.
Pommerle blieb stehen. »Wohnt dort der Harfen-Karle?«
»Ja, komm nur schnell, ich bin schon ganz naß!«
Pommerle war die letzte, die das Häuschen erreichte. Zögernd blieb das kleine Mädchen stehen. Die anderen Kinder waren bereits in den Hausflur getreten. Pommerle hörte eine fremde Stimme, die gar freundlich klang. Da folgte es den anderen und sah sich bald einem großen, hageren Mann gegenüber, den Pommerle erstaunt musterte. Viele Haare hatte der alte Mann nicht mehr auf dem Kopfe, aber die wenigen, die noch vorhanden waren, hingen in dünnen Strähnen bis auf die Schultern herab. Dazu kam ein langer, weißer Bart. Der alte Mann trug einen grauen Kittel, der fast bis auf die Erde hinunterreichte.
Und dann die Hände! – So lange, dünne Finger hatte Pommerle noch nie gesehen. Die Mitschülerinnen hatten bereits davon erzählt, daß sie beim Beerenpflücken vom Regen überrascht worden wären. Sie baten den Harfen-Karle, solange hierbleiben zu dürfen, bis der Regen nachgelassen habe.
So gut es ging, machte man es sich in der verräucherten Stube bequem. Die Kinder hockten an dem großen Ofen, um den eine Holzbank aufgestellt war.
»Meine Enkeltochter kommt erst am Abend heim, ich kann euch schlecht helfen, Kinder; aber trocknen könnt ihr euch hier.«
Vor Pommerle machte der Alte halt. »Dich kenne ich ja noch gar nicht, Kleine. – Wie heißt du?«
»Hanna Ströde, aber alle nennen mich Pommerle.«
»Ströde – ich kenne doch im Hirschberger Tal alle Leute, aber eine Ströde kenne ich nicht. – Wo wohnst du denn?«
»In Hirschberg, beim Onkel Professor Bender.«