Kinderstation. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718988
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recht in Form.«

      »Es schien Ihnen so … Schien es Ihnen so während der Operation oder erst am nächsten Tag? Als der Chefarzt Sie und die Schwester zur Rede stellte? Oder schien es Ihnen vielleicht noch später?«

      Eichner schwieg.

      »Sie müssen dem Herrn Verteidiger antworten«, mahnte der Vorsitzende.

      Eichner konnte sich nicht mehr beherrschen. »Auf welche seiner Fragen?« sagte er wütend. »Ich kenne mich nicht mehr aus.«

      »Dann werde ich Ihnen helfen«, erwiderte der Rechtsanwalt ruhig. »Wann ist es Ihnen eingefallen, ich sage absichtlich eingefallen, daß die Angeklagte sich in der fraglichen Nacht in einer schlechten Verfassung befand?«

      »Daran kann ich mich nicht mehr genau erinnern.«

      »Ihre Erinnerung an jene Nacht ist also nicht ganz klar.«

      »Das habe ich nicht gesagt.« Eichners Stimme wurde schrill. »Glauben Sie, ich merke nicht, was Sie mit mir vorhaben? Ich weiß genau, daß Sie mich verwirren wollen. Ich habe die Vorgänge in jener Nacht mehrmals genau geschildert. Sie haben kein Recht, ständig meine Worte anzuzweifeln. Ich bin schließlich kein Verbrecher. Ich nicht.«

      Rechtsanwalt Dr. Schneiderbohm setzte sich. Dabei sagte er: »Ich denke, wir verzichten vorläufig auf eine Vereidigung.«

      Eichner nahm auf der Zeugenbank Platz.

      Immer wieder wanderten seine Blicke zu dem Rechtsanwalt, den er haßerfüllt ansah.

      Der Richter blätterte in seinen Akten. »Ich schlage vor, daß wir jetzt den Chefarzt Doktor Arno Vogel zu Wort kommen lassen.«

      »Verzeihung, Herr Vorsitzender«, sagte der Staatsanwalt. »Ich möchte lieber, daß wir erst die Zeugin Hilde Güldener befragen.«

      Rechtsanwalt Dr. Schneiderbohm sah den Staatsanwalt erstaunt an. Der fuhr fort: »Die Staatsanwaltschaft hat den Antrag auf Vernehmung dieser Zeugin nachträglich eingereicht, Blatt 27, 3a.«

      Der Vorsitzende blätterte in Papieren.

      »Ich erhebe Einspruch«, sagte Dr. Schneiderbohm. »Von der Existenz dieser Zeugin höre ich hier zum ersten Male.«

      Der Staatsanwalt sah lächelnd zu Dr. Schneiderbohm. »Hilde Güldener ist Tatzeugin. Ihre Vernehmung ist wichtiger als die des Chefarztes. Denn Doktor Vogel hat ja selbst nichts beobachtet.«

      »Die Zeugin Hilde Güldener«, entschied der Richter.

      Der Justizwachtmeister rief ihren Namen in den Korridor.

      Schwester Hilde kam in den Gerichtssaal. Sie trug ein leuchtend buntes Sommerkleid, weiße Pumps mit hohen Absätzen und weiße, ellbogenlange Lederhandschuhe. Ihr Haar glänzte silberblond.

      Sie erzählte: »Ich hatte an dem Abend um sieben Uhr meinen Dienst angetreten, auf der Privatstation des Herrn Chefarztes. Schwester Marina, die ich ablösen sollte, erklärte mir noch einmal genau, worauf ich bei dem kleinen Patienten zu achten hätte. Sie war noch um acht Uhr im Hause, als das Neugeborene mit dem Rhesusfaktor eingeliefert wurde. Und dann blieb sie, um bei der Operation zu helfen.«

      Der Richter fragte: »Ist Ihnen an der Angeklagten etwas Besonderes aufgefallen?«

      »Nein, eigentlich nicht. Höchstens …«

      »Was höchstens?«

      »Sie schien mir sehr müde zu sein. Das war ja auch kein Wunder. Seit dem frühen Morgen war sie auf den Beinen. Ich half ihr bei den Vorbereitungen zur Blutaustausch-Transfusion. Als der Chefarzt mit dem Eingriff begann, verließ ich den OP.«

      »Und wann erfuhren Sie von dem Tod des Kindes?«

      »Ich war ja dabei.«

      Die Zuhörer begannen aufgeregt zu flüstern.

      Der Richter schlug mit dem Bleistift auf den Tisch. Dann fragte er die Zeugin: »Sie waren anwesend? Und das sagen Sie jetzt erst?«

      »Ja, ich weiß, es war ein Fehler. Aber ich bewundere Schwester Marina sehr. Sie ist mein Vorbild, und sie hatte doch an dem betreffenden Tag so schweren Dienst gehabt. Ich habe mich davor gefürchtet, sie zu belasten.«

      »Na hören Sie!« Der Ton des Richters wurde streng und laut. »Sie haben nur eins zu fürchten: daß Sie nicht die volle Wahrheit sagen.«

      Schwester Hilde sah den Gerichtsvorsitzenden erschrocken an.

      »Ich will ja auch alles sagen.«

      »Gut, berichten Sie jetzt.«

      »Der kleine Thomas auf der Privatstation war in der Nacht sehr unruhig. Er konnte nicht einschlafen. Ich wußte nicht, ob ich ihm noch ein Beruhigungsmittel geben durfte. Der Herr Chefarzt, der Oberarzt Doktor Eichner und Schwester Marina waren im OP. Deshalb ging ich nochmals hin. Über der Tür brannte das rote Licht. Ich machte sie vorsichtig auf, und dann wartete ich an der Tür auf einen günstigen Moment, um Marina zu fragen. Niemand sah mich. Der Herr Chefarzt beugte sich über den Operationstisch. Er wandte mir den Rücken zu. Schwester Marina stand am Medikamentenschrank und zog eine Spritze auf. Oberarzt Doktor Eichner kam auf sie zu und wollte ihr die Spritze abnehmen. Aber sie ging selbst zum Chefarzt und gab ihm die Spritze. Und nach einer Weile hörte ich, wie der Herr Chefarzt sagte ›Exitus‹. Und dann schloß ich ganz leise die Tür und ging wieder weg.«

      »Ohne mit jemand gesprochen zu haben?« fragte der Richter.

      »Ich traute mich nicht mehr.«

      »Haben Sie später jemand von Ihrer Beobachtung erzählt?«

      »Ja, meinem Vater. Der riet mir, zur Staatsanwaltschaft zu gehen.«

      Der Richter räusperte sich. »Sie können Ihre Aussage beschwören?«

      Schwester Hildes Stimme war leise, aber fest. »Jawohl, Herr Vorsitzender.«

      Der Richter bat jetzt Dr. Eichner nach vorn. Der Oberarzt stand dicht neben Schwester Hilde. Beide sprachen dem Vorsitzenden die Eidesformel nach.

      Marina bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.

      »So«, sagte der Richter, beinahe gemütlich, »und jetzt wollen wir den Herrn Chefarzt persönlich zu Rate ziehen.« Er wandte sich zum Wachtmeister: »Herr Doktor Vogel, bitte.«

      Als Arno Vogel den Saal betrat, erreichte die Spannung im Publikum ihren Höhepunkt. Mit unverhohlener Neugierde sahen auch Richter, Staatsanwalt und Rechtsanwalt dem Arzt entgegen.

      Sein Gesicht war verschlossen. Kein Muskel regte sich.

      »Na, nun beruhigen Sie sich mal«, sagte der Rechtsanwalt.

      Er ging neben Marina die Treppe hinunter, die in den Vorhof des Gerichtsgebäudes führte. »Soll ich Ihnen ein Taxi bestellen?«

      Marina antwortete nicht. Drei Monate Gefängnis … dachte sie. Schuldig, den Tod des neugeborenen Kindes Peter Hagemann fahrlässig verursacht zu haben … Die Strafe zur Bewährung ausgesetzt …

      Die Worte des Richters wirbelten ihr im Kopf herum. Sie konnte sie wörtlich wiederholen.

      Aber sie konnte sie nicht fassen.

      Sie gingen durch den Vorhof zur Ausgangstür. »Was hatten Sie denn erwartet?« sagte der Rechtsanwalt. »Nachdem Ihre Kollegin unter Eid so eindeutig ausgesagt hatte, war doch nicht mehr viel drin. Und Doktor Vogel …«

      »Doktor Vogel«, wiederholte Marina mechanisch. »Das hätte ich von meinem Chef nicht gedacht.«

      »Aber, Kindchen.« Der Rechtsanwalt blieb stehen. »Verrennen Sie sich doch nicht. Was sollte er denn sonst sagen? Er hat Sie über den grünen Klee gelobt. Aber wer die Spritze aufgezogen hat, vermochte er nun einmal nicht zu sagen.«

      »Er kennt mich doch. Er weiß, wie gewissenhaft ich bin.« Marina begann leise zu schluchzen.

      »Sie haben doch Bewährung.« Der Rechtsanwalt schüttelte den Kopf. »Nehmen Sie sich zusammen.«

      »Doktor