Kinderstation. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718988
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… denen, die noch nicht einem Irrtum zum Opfer gefallen sind!«

      Professor Böhninger seufzte. »Ich hätte es wissen müssen. Du kannst nicht aus deiner Haut heraus.« Er legte ihm die Hände auf die Schultern. »Natürlich hast du recht. Ich wollte dir nur sagen … das Richtige zu tun, ist nicht immer klug. Untersuch den Fall, wenn du es nicht lassen kannst.« Er seufzte tief. »Ich sehe schon, es hat keinen Zweck, dich zu warnen. Ich hoffe nur, daß ich die Dinge zu schwarz sehe. Ich bin ein alter Mann, Arno, und ich kenne das Leben.«

      »Der Grund, warum ich Sie zu mir gebeten habe, ist leider außerordentlich unangenehm.« Dr. Vogel blickte von Schwester Marina zu Dr. Eichner. »Ich will ganz offen sein … der Exitus gestern nacht hat mir zu denken gegeben. Ich möchte in diesem Zusammenhang einige Fragen an Sie richten.«

      »Soll das ein Verhör sein?« fragte Dr. Eichner scharf.

      »Eben nicht!« Dr. Vogel hatte seinen Gästen Cognac eingeschenkt, Zigaretten angeboten, alles, um das Peinliche der Situation zu verwischen. »Ich möchte versuchen, den Fall freundschaftlich und sachlich zu klären.«

      »Haben Sie schon mit Dr. Hagemann gesprochen?« fragte Eichner.

      »Noch nicht. Wie ich höre, ist er noch in London.« Er machte eine kleine Pause. »Das steht mir also noch bevor.«

      Dr. Vogel gab sich einen Ruck. »Ich will Sie nicht auf die Folter spannen. Heute nacht ist einem von uns ein Irrtum unterlaufen. Die Spritze, die ich dem Kleinen injizierte, als sein Atem zu versagen begann, enthielt Gradiren. Das bedeutet für ein Neugeborenes eine fünf- bis zehnfache Überdosis. Dadurch kam es zur Verkrampfung der Atemorgane und zum Exitus.«

      Er ließ, während er sprach, die Schwester und den Arzt nicht aus den Augen. Eichners Gesicht wurde fleckig vor Erregung.

      Marina blieb ruhig, unnatürlich ruhig.

      »Sie werden sich beide erinnern«, fuhr Dr. Vogel fort, »daß ich Lobelin verlangt hatte. Einer von Ihnen beiden hat sich geirrt.« Ehe sie noch etwas äußern konnten, setzte er rasch hinzu: »Ich habe keineswegs vor, den Schuldigen bestrafen zu lassen. Wenn Sie wollen, bleibt die ganze Sache unter uns. Es kommt mir nur darauf an festzustellen, wie das geschehen konnte … damit in Zukunft ähnliche Mißgriffe mit Sicherheit ausgeschaltet werden können.«

      »Ich gab Ihnen die Spritze, Herr Chefarzt«, sagte Schwester Marina, »Herr Dr. Eichner hat sie aufgezogen.«

      »Unerhört, unglaublich!« Eichner protestierte laut.

      Marina ließ sich nicht unterbrechen. »Ich gab dem Herrn Doktor die Spritze, sah zu, wie er sie aufzog, nahm sie ihm dann aus der Hand und lief zum Operationstisch.«

      »Also das ist doch …«

      »Einen Augenblick bitte, verehrter Kollege.« Dr. Vogel wandte sich wieder an Schwester Marina. »Aber Sie hätten doch sehen müssen, aus welcher Packung Dr. Eichner die Ampulle genommen hatte.«

      Schwester Marina antwortete erst nach einer kleinen Pause.

      »Nein«, sagte sie dann, »ich habe nicht darauf geachtet.«

      »Auch später nicht? Beim Aufräumen?«

      Marina schüttelte den Kopf. »Mir ist an den Packungen nichts aufgefallen.«

      »Na schön, das ist also Ihre Version. Und Sie, Kollege Eichner?«

      »Ich habe weder die Spritze noch die Ampulle auch nur eine Sekunde in der Hand gehabt. Wie käme ich auch dazu! Es ist Aufgabe der Schwester …«

      Dr. Vogel unterbrach ihn. »Sicher. Das sagten Sie schon mal. Aber Sie gingen also zum Medikamentenschrank?«

      »Ich folgte der Schwester … aber erst, als mir schien, daß sie unverhältnismäßig lange brauchte. Ich folgte ihr, um zu helfen. Sie war schon dabei, die Spritze aufzuziehen, als ich zu ihr trat. Dann ging sie rasch an mir vorbei zum Operationstisch und gab sie Ihnen.«

      »Das ist nicht wahr!« Jetzt wurde auch Marina laut.

      Dr. Vogel hob beschwörend die Hände. »So kommen wir nicht weiter«, sagte er, »schade, sehr schade. Ich sehe keine Möglichkeit, mir nach Ihren einander widersprechenden Aussagen ein Bild zu machen. Am besten gehen wir in den OP heute nachmittag, wenn er frei ist. Dann machen wir in aller Ruhe einen Lokaltermin unter uns.«

      Dr. Eichners Stimme klang schrill. »Das lasse ich nicht mit mir machen. Sie sind zu weit gegangen, Herr Chefarzt. Ich verlange, daß Anzeige erstattet wird.«

      »Nimm es nicht so schwer, Arno!« sagte Regine zu ihrem Mann. »Du kannst doch nichts dafür.«

      Das Wetter war umgeschlagen, ein eintöniger Regen klopfte gegen die Scheiben.

      Chefarzt Dr. Arno Vogel und seine Frau Regine saßen im Wohnzimmer und tranken, wie immer nach dem Mittagessen, ihren Kaffee. Die kleine Isa lag auf dem Fußboden und kritzelte in ein altes, zerfleddertes Notizbuch.

      »Ich fürchte, du begreifst nicht ganz«, sagte Arno Vogel müde. »Natürlich kann ich nichts dafür, wie du es ausdrückst. Aber ich trage die Verantwortung für alles, was in der Klinik geschieht. Was nützt es mir denn, wenn ich mir sage: Ich kann nichts dafür?«

      Regine sah ihn bekümmert an. »Du nimmst deinen Beruf zu schwer. Nein, das ist nicht das richtige Wort, du nimmst ihn zu persönlich. Du leidest immer mit den andern mit, mit den Kindern und mit den Eltern. Bitte, verzeih mir, wenn ich es sage: Das ist doch eine falsche Einstellung. Ein Arzt muß mehr über den Dingen stehen …«

      Arno Vogel lächelte bitter. »Ach, Regine«, sagte er. »Du weißt noch nicht alles. Der Tod des Kindes wird ein gerichtliches Nachspiel haben.«

      »Um Gottes willen«, rief sie erschrocken.

      »Ja, ich kann es nicht ändern. Der Eichner besteht darauf.«

      »Warum? Du hast doch keinen Fehler gemacht …«

      »Nein, das habe ich nicht.« Arno Vogel zündete ein Streichholz an, um seine Pfeife wieder in Brand zu setzen.

      »Aber was will Kurt Eichner denn? Was hat das Ganze denn für einen Sinn?«

      Arno Vogel seufzte: »Tatsächlich ist eine Verwechslung passiert. Ich habe sie als erster entdeckt. Natürlich habe ich versucht, die Sache aufzuklären. Ich habe gehofft, wir könnten das intern regeln. Aber jetzt fängt die Sache an, Kreise zu ziehen.«

      »Was sagt Papa dazu?«

      »Ich habe noch nicht mit ihm darüber gesprochen.«

      Regine sprang auf: »Das mußt du sofort tun. Papa wird dir helfen. Soll ich ihn anrufen? Er kann sich doch den Eichner mal vornehmen. Unter keinen Umständen darf die Sache nach draußen dringen. Stell dir doch vor …« Regine beendete den Satz nicht, weil es an der Haustür klingelte.

      »Moment mal«, sagte sie. »Ich sehe nach, wer da ist.« Schmal und geschmeidig, in ihrem anliegenden Kleid aus orangefarbener Wolle, ging sie zur Tür.

      Arno Vogel trank noch einen Schluck Kaffee.

      Die kleine Isa zog die Beine an und setzte sich auf. »Papi, du wolltest doch heute Kasperletheater mit mir spielen. Du hast es versprochen …«

      »So? Davon weiß ich ja gar nichts.«

      »Doch, ganz bestimmt, Papi. Weil ich gestern abend nicht aufbleiben durfte, als die vielen Leute kamen.«

      »Jaja, richtig«, sagte er zerstreut. »Ich spiele auch mit dir, Isa. Aber nicht heute.«

      Isa ließ sich nicht so leicht abwimmeln. »Du hast es mir aber doch versprochen«, sagte sie energisch.

      Regine kam ins Zimmer. Noch ehe sie ein Wort sagte, sah er ihr an, daß etwas Unangenehmes geschehen war. Er schob die Tasse zur Seite und stand auf.

      »Was ist?« fragte er gespannt.

      Sie schloß leise die Tür und flüsterte ihm zu: »Dr. Hagemann ist da …« Ihre Augen waren dunkel vor Angst. »Er will dich