Kinderstation. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Документальная литература
Год издания: 0
isbn: 9788711718988
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Die Gänge lagen jetzt, um Mitternacht, wie ausgestorben da, grau vom Nachtlicht beleuchtet.

      Nur im Operationssaal brannten alle Lampen und erfüllten den Raum bis in den letzten Winkel mit ihrem kalten, grellen Licht. Schwester Marina sah auf, als Dr. Eichner eintrat. Er strich sich nervös über den Schnurrbart, sah sie fragend an, flackernde Unruhe in den dunklen, schräg geschnittenen Augen.

      »Alles in Ordnung, Herr Doktor«, sagte Schwester Marina.

      Vor ihr auf dem Tisch lag in einem Körbchen, links und rechts von Wärmflaschen umgeben, das Neugeborene und schlief mit seltsam verzogenem Gesicht. Die Gelbfärbung der Haut wurde im scharfen Licht besonders deutlich.

      »Eine sehr unangenehme Sache!« Dr. Eichner räusperte sich. »Wirklich, sehr unangenehm.«

      Schwester Marina schwieg, den Blick auf das schlafende Kind gerichtet.

      Dr. Eichner sah auf seine goldene Armbanduhr. »Ich denke, ich werde …«, begann er. Aber dann brach er ab und sagte: »Sie wissen, was Sie zu tun haben, Schwester … lassen Sie das Kind keine Sekunde aus den Augen!«

      Sie erwiderte nichts, blickte ihn nur an. Ihre gelassene Sicherheit steigerte seine Nervosität. Er wollte etwas sagen, schluckte, blieb stumm, wandte sich zur Tür.

      »Herr Doktor …«

      Dr. Eichner fuhr herum. »Ja?«

      »Bitte sagen Sie dem Herrn Chefarzt, daß Schwester Hilde einen Kaffee für ihn gekocht hat. Er steht im Schwesternzimmer.«

      Seine Augen verengten sich. »Ist das so wichtig?«

      »Der Chefarzt übernimmt eine große Verantwortung.«

      Seine Stimme überschlug sich. »Bilden Sie sich etwa ein, ich wäre nicht imstande, diese Blutaustausch-Transfusion allein dürchzuführen?«

      Ihr Gesicht blieb bewegungslos. Sie schwieg.

      Er holte tief Atem, sagte in verändertem Ton, lächelnd: »Bitte, seien Sie mir nicht böse, Schwester … ich weiß selbst nicht, was mit mir los ist. Entschuldigen Sie!«

      Und dann ging er rasch hinaus, zündete sich draußen auf dem Gang eine Zigarette an, rauchte gierig. Als er die Tür des Aufzuges hörte, lief er mit kleinen elastischen Schritten den Gang entlang. An der Ecke prallte er auf Dr. Vogel.

      »Endlich!«

      »Guten Abend, Kollege«, sagte der Chefarzt gelassen. »Sie sehen, ich bin sofort gekommen … ich habe mir nicht einmal Zeit genommen, mich umzuziehen. Gibt es Komplikationen?«

      »Nein, bisher nicht. Der Zustand des Kindes ist unverändert.«

      »Na also. Wir werden es schon schaffen«, sagte Dr. Vogel zuversichtlich. »Sind die Spender gekommen?«

      »Auf dem Weg.«

      »Übernehmen Sie das, bitte. Wir werden etwa achthundert Kubikzentimeter Blut brauchen, Sie wissen ja, wir müssen das gesamte Blut des Kindes austauschen. Geben Sie so bald wie möglich von jedem Spender ein Röhrchen Blut zur Kreuzprobe ins Labor. Das ist wichtig. Wo ist das Würmchen?«

      »Herr Chefarzt«, platzte Dr. Eichner heraus, »es handelt sich nicht um ein gewöhnliches Kind!«

      »Nicht?« Dr. Vogel hob fragend die dichten Augenbrauen.

      »Sein Vater ist der Präsident des Landtages … Dr. Paul Hagemann.«

      »Ich verstehe nicht …«

      »Aber ich bitte Sie. Hagemann ist es doch, der sich Jahr für Jahr bemüht, unsere Subventionen durchzudrücken. Er ist unerhört wichtig für uns.«

      Eichner warf seine Zigarette zu Boden, trat sie ungeduldig aus. »Ich kenne Hagemann persönlich. Aber was hat das mit der Krankheit des Kindes zu tun?«

      Dr. Eichner starrte den Chefarzt verständnislos an.

      »Machen Sie sich doch nicht verrückt, Kollege«, sagte Dr. Vogel. »Wer die Eltern unserer Patienten sind, kann uns doch ganz egal sein. Wir sind da, um die Kinder gesund zu machen, alle Kinder, verstehen Sie, alle … Was geht es uns denn an, ob der Vater für Subventionen zuständig ist oder für … Kartoffeln. Ich bitte Sie, Kollege, das spielt für uns doch gar keine Rolle. Aber wenn Sie schon so gut orientiert sind, dann erzählen Sie mir mal lieber etwas über die Krankengeschichte.«

      »Ja, natürlich, gern«, sagte Dr. Eichner beflissen. »Im übrigen habe ich vergessen, Ihnen auszurichten, daß im Schwesternzimmer ein Kaffee auf Sie wartet.«

      »Großartig. Kommen Sie mit.« Mit wenigen Schritten war Dr. Vogel an der Tür. »Guten Abend, Schwester Hilde«, sagte er, »ich hoffe, Sie haben auch noch eine Tasse für den Kollegen Eichner übrig.«

      Schwester Hilde, blond und hellhäutig, errötete grundlos. »Natürlich, Herr Chefarzt, ich bin gerade fertig.« Sie nahm den Filter von der Kanne. »Es sind drei Tassen drin.« Sie begann mit geschickten Händen Tassen, Untertassen, Löffel und Zucker auf der Kunststoffplatte des Tisches zu verteilen.

      Die beiden Ärzte zogen sich Stühle heran.

      »Danke, Schwester«, sagte Dr. Vogel freundlich. Er wandte sich an Eichner, der sich eine Zigarette aus seinem Päckchen geklopft hatte. »Geben Sie mir bitte auch eine, Kollege. Sie wissen, ich bin zwar passionierter Pfeifenraucher, aber gerade jetzt …« Er zog sich eine Zigarette heraus. »Danke vielmals.«

      Dr. Vogel nahm einen kräftigen Schluck Kaffee. »Also … schießen Sie los!«

      Schwester Hilde ging lautlos hinaus.

      »Der Patient wurde neun Uhr fünfundvierzig aus der Frauenklinik bei uns eingeliefert. Es war aufgefallen, daß die Neugebörenen-Gelbsucht bereits nach zwölf Stunden, also wesentlich zu früh, eingetreten war. Außerdem wußte man, daß die Mutter rh-negativ ist …«

      »Erstgeburt?«

      »Nein. Hagemanns haben eine Tochter, sie ist jetzt zwei Jahre alt. Damals ging, soviel ich weiß, alles glatt.« Der Arzt legte eine kleine Kunstpause ein. »Diesmal mußte durch Kaiserschnitt entbunden werden. Dabei trat eine schwere Blutung auf. Evelyn Hagemann wird niemals mehr Kinder bekommen können, das Neugeborene ist ein Junge. Wenn es uns nicht gelingt, ihn durchzubringen …« Dr. Eichners Hand, welche die Zigarette hielt, zitterte leicht.

      »Wie lautet der Befund?« fragte Dr. Vogel.

      »Das Kind wog bei der Aufnahme dreitausendfünfhundert Gramm und hatte siebenunddreißig-zwei gemessen. Ich habe sofort untersucht. Leber und Milz sind erheblich vergrößert. Lunge und Herz ohne Befund. Der Icterus gravis war auffallend, inzwischen ist die Färbung übrigens noch gelber geworden.«

      »Der Test?«

      »Ist positiv ausgefallen. Bilirubin …«

      »Das sagten Sie mir schon. Der Gallenfarbstoff ist auf zwanzig Milligrammprozent erhöht, wenn ich mich nicht irre.«

      »Ganz richtig. Im gefärbten Blutausstrich fand sich eine große Anzahl von unreifen Blutkörperchen. Die Hämoglobin- und Erythrozytenwerte sind erheblich zu niedrig. Alle diese Faktoren zusammengenommen, schienen mir unbedingt auf eine Erythroblastose hinzuweisen.«

      »Sie haben sehr umsichtig gehandelt. Ich bin auch überzeugt, daß Ihre Diagnose richtig ist. Trotzdem möchte ich mir den kleinen Patienten noch selber ansehen …«

      »Es tut mir leid, daß ich Sie gerade heute belästigen mußte«, sagte Eichner.

      »Sie haben keinen Grund, sich zu entschuldigen.« Dr. Vogel drückte die Zigarette aus und stand auf. »Also, dann wollen wir mal.« Das Wandtelefon klingelte. Er nahm den Hörer ab, meldete sich, lauschte. »In Ordnung«, sagte er dann, »führen Sie die beiden Herren gleich herauf.«

      Er hängte ein und wandte sich an Dr. Eichner. »Die Blutspender sind gekommen. Das hat also geklappt.«

      »Soll ich gleich … ?«

      »Wäre schon gut. Machen