Gordon erwiderte, daß er vor zehn Tagen schon nachgefragt habe.
»Susanne hat uns davon erzählt. Und die Beschreibung, die sie machte, war so gut, daß St. Arnaud und ich gleich auf Sie rieten. Aber nun vor allem Pardon, daß ich Sie nicht in unsren Glanzräumen empfange. Wir sind noch wie zu Gast bei uns selbst und beschränken uns auf ein paar Hinterzimmer. Ein Glück, daß wir wenigstens einen leidlich repräsentablen Gartenbalkon haben. Übrigens finden Sie Besuch. Erlauben Sie, daß ich voraufgehe.«
Gordon verneigte sich, und einen Augenblick später traten beide, nach Passierung eines schon im Seitenflügel gelegenen und mit Philodendrons und andren Blattpflanzen fast überfüllten Raumes, auf einen Vorbau hinaus, der, aus Stein aufgeführt, mehr einem nach vorn hin offenen Zimmer als einem Balkone glich. Eiserne Stühle samt Tisch und Etagère standen umher, während auf einer mit Kissen belegten Gartenbank ein alter Herr mit schneeweißem Haar saß, der sich, als er Gordons gewahr wurde, von seinem Platz erhob.
»Erlauben mir die Herren, Sie miteinander bekannt zu machen: Herr von Leslie-Gordon, Herr Hofprediger Doktor Dörffel. Aber nun, wenn ich bitten darf, placieren wir uns. Der Stuhl in der Ecke da… wahrscheinlich verstaubt… , aber gleichviel, helfen Sie sich, so gut es geht. Und nun, Herr von Gordon, bitt ich, Ihnen ein Glas von diesem Montefiascone einschenken zu dürfen. Oder der Herr Hofprediger übernimmt es vielleicht; er hat ruhige Nerven und eine sichere Hand, während ich immer noch das Fingerzittern habe; Meer- und Gebirgsluft haben mir gleichmäßig die Hülfe versagt. Aber nichts von solch unerfreulichen Dingen. Ihr Wohl, Herr von Gordon.«
»Und das Ihre, meine gnädige Frau.«
Cécile dankte. »Erinnern Sie sich noch des Tages, wo wir das letzte Mal so zusammensaßen?«
»Oh, wie könnt ich des Tages je vergessen.«
Und er begann nun den Reim zu zitieren, worin Rosa von der »Perlen schönster Perle« gesprochen hatte.
Cécile ließ ihn aber nicht aussprechen und sagte: »Nein, Herr von Gordon, Sie dürfen mich nicht in Verlegenheit bringen, und am wenigsten hier vor meinem väterlichen Freunde. Ja, die Schmerlen und der Rodensteiner. Und als dann die Turner aufmarschierten! Es war so reizend. Aber das Reizendste von allem ist doch, daß wir in diesem Augenblicke darüber sprechen und den Herrn Hofprediger nicht nur in unsre gemeinschaftlichen glücklichen Erinnerungen einweihen, sondern auch auf Verständnis rechnen können. Denn er hat selber ein gut harzisch Herz und ist ein Quedlinburger, wenn ich nicht irre.«
»Nein, meine gnädigste Frau, nur ein Halberstädter.«
»Nur, nur«, lachte Gordon. »Jedenfalls beneid ich den Herrn Hofprediger um seine Geburtsstätte.«
»Zuletzt ist jeder Platz gerade gut genug, um darauf geboren zu werden.«
»Gewiß. Aber doch der eine vor dem andern. Und wenn ich meinerseits mir einen Platz hätte wählen können, so hätt ich mir Lübeck gewählt oder Wismar oder Stralsund, weil ich die Hansa-Passion habe. Gleich nach der Hansa aber kommt der Strich von Halberstadt bis Goslar. Und als drittes erst kommt Thüringen.«
Der Hofprediger reichte Gordon die Hand und sagte: »Darauf müssen wir noch eigens anstoßen; erst Hansa, dann Harz und dann Thüringen. Mir aus der Seele gesprochen, trotzdem es fast sakrilegisch ist. Denn ein richtiger lutherischer Geistlicher muß eigentlich auch zur Luther-Gegend halten.«
»Gewiß, zur Luther-Gegend, die die Dioskuren von Weimar uns gleich noch als Zugabe bringt. Aber der Harz hat nun mal meine ganz besondren Sympathien, und ich liebe jedes harzische Lied und jede harzische Sage, von Buko von Halberstadt an bis zu des Pfarrers Tochter… «
»… von Taubenhayn«, ergänzte der Hofprediger. Aber im selben Augenblicke wahrnehmend, daß Cécile, wie bei jedem unpersönlich bleibenden Gespräche, voll wachsender Abspannung dreinsah, brach er rasch ab oder mühte sich wenigstens, auf etwas Näherliegendes einzulenken. »Ja, der Harz!« fuhr er fort. »Wir sind ganz d'accord, Herr von Gordon. Und nun gar mein liebes altes Halberstadt, von dem ich mit dem König von Thule singen möchte, ›es ging ihm nichts darüber‹ - so sehr häng ich daran. Und doch, wenn ich mich umtun und einen Fleck Erde nennen sollte, der vielleicht angetan wär, ihm in meinem Herzen den Rang streitig zu machen, so wär es unser gutes Berlin. Und worin den Rang streitig macht? Just in dem, was ihm am meisten abgesprochen wird, in landschaftlicher Schönheit. Bitte, treten Sie hier heran, Herr von Gordon, hier an diese Brüstung, und dann urteilen Sie selbst. Wenn Sie den ganzen Harz auf den Kopf stellen, so fällt, so schön er ist, kein Stück Erde heraus wie das hier.«
Und wirklich, er durfte so sprechen, denn was sich da, vom ersten Herbste kaum angeflogen, zu Füßen des Balkons ausbreitete, war eine Art Föderativstaat von Gärten, zwanzig oder mehr, die, durch niedrige, kaum sichtbare Heckenzäune voneinander getrennt, ein einziges großes Blumencarré bildeten: Astern in allen Farben, aus denen Rondele von Canna indica emporblühten. Die Mittagssonne blitzte dazwischen, und auf einer ihnen gegenübergelegenen Veranda standen Damen im Gespräch und fütterten Tauben, die, von einem Nachbarhofe her, auf die jenseitige Balkonbrüstung geflogen waren.
»Insel der Seligen«, sagte Gordon vor sich hin und bedauerte doch schon im selben Augenblicke, das Wort gesprochen zu haben, weil er wahrnahm, wie peinlich Cécile davon berührt wurde. Doch es ging vorüber, und sich rasch wieder in ihre gute Laune zurückfindend, sagte sie: »Wissen Sie, daß ich all die Zeit über an den alten Emeritus und den Professor mit dem sonderbaren Namen gedacht habe. Braunschweig oder Anhalt war das ewige Thema. War es nicht so? Und nun ist Harz oder Thüringen das erste Gespräch, das ich Sie führen höre. Nein, mein Herr Professor ›Aus dem Grunde‹, zu dem Behufe wollen wir uns nicht wiedergesehen haben.«
Gordon versprach feierlichst Besserung, fragte nach dem Obersten und zuletzt auch nach Rosa, und ob Nachrichten von ihr eingetroffen seien, was bejaht wurde. Dann erhob er sich, verneigte sich mit vieler Artigkeit gegen den Hofprediger und empfahl sich, während Cécile nach dem Diener klingelte.
»Nun«, fragte Cécile, »welchen Eindruck haben Sie von ihm empfangen?«
»Einen guten.«
»Ohne Einschränkung?«
»Fast. Er ist klug und gewandt und, wie ich glaube, von untadliger Gesinnung.«
»Aber?«
»Er hat, so lebhaft und sanguinisch er ist, einen eigensinnigen Zug um den Mund und ist mutmaßlich fixer Ideen fähig. Ich fürchte, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hat, so will er auch mit dem Kopf durch die Wand. Das Schottische spukt noch in ihm nach. Alle Schotten sind hartköpfig.«
»Ich hab ihn umgekehrt immer nachgiebig gefunden und überaus leicht zu behandeln.«
»Ja, alltags und in kleinen Dingen.«
Cécile schwieg sichtlich verstimmt, weshalb der Hofprediger, einlenkend, fortfuhr: »Im übrigen, meine gnädigste Frau, dürfen Sie Bemerkungen wie diese nicht ernsthafter nehmen, als sie gemacht werden. Alles, was ich gesagt habe, sind Sentiments und Mutmaßungen. Ich bin Hofprediger, aber nicht Prophet, auch nicht einmal von den kleinen. Und wenn ich recht hätte! Was bedeutet Eigensinn? Unser Leben ist voller Fallgruben, und wer in die des Eigensinns fällt, fällt noch immer nicht sonderlich tief. Da gibt es ganz andre. Herr von Gordon, wenn mich nicht alles täuscht, ist ein Mann von Grundsätzen und doch zugleich frei von Langweil und Pedanterie.
Man erkennt unschwer den Mann, der die Welt gesehen und die kleinen Vorurteile hinter sich geworfen hat. So recht eine Bekanntschaft, wie Sie sie brauchen. Denn es bleibt bei meinem alten Satze, Sie verbringen Ihr Leben einsamer, als Sie sollten.«
»Im Gegenteil, nicht einsam genug. Was sich Gesellschaft nennt, ist mir alles Erdenkliche, nur kein Trost und keine Freude.«
»Weil die Gesellschaft, die sich Ihnen bietet, hinter Ihren Ansprüchen zurückbleibt. Sie lächeln, aber es ist so, meine gnädigste Frau. Was Sie brauchen, sind unbefangene Menschen, Menschen, die die Sprache zum Ausplaudern, nicht aber zum Cachieren der Dinge haben. Und zu diesen Unbefangenen zählt Herr von Gordon. So wenigstens