Er ruhte sich einen Augenblick und machte dann Toilette.
»Wohin? Alte Freunde besuchen, die vielleicht keine mehr sind? Immer mißlich. Also neue, das heißt mit andern Worten die St. Arnauds. Denn andre hab ich nicht. Aber sind sie da? Daß ich sie vor acht Tagen auf der langweiligen Insel nicht finden konnte, beweist nicht, daß sie zurück sein müssen. Sie können sich, statt für Norderney, mindestens ebensogut für Helgoland oder Scheveningen entschieden haben. Eins ist wie das andre. Aber mit oder ohne Chance, jedenfalls kann ich einen Versuch machen.«
Und er nahm Hut und Stock, um in der St. Arnaudschen Wohnung vorzusprechen.
Diese war auf dem Hafenplatze, so daß der einzuschlagende Weg erst durch ein Stück Königgrätzer Straße, demnächst aber über den Potsdamer Platz führte, der auch heute wieder wegen Kanalisation und Herstellung eines Inselperrons unpassierbar war. Wenigstens in seiner Mitte. So mußte Gordon denn an der Peripherie hin sein Heil versuchen, was ihn freilich nur in neue Wirrnisse brachte. Denn es war gerade Markt heute, der, wie gewöhnlich an dieser Stelle, zwischen Straßendamm und Häuserfront abgehalten wurde. Hier saßen die Marktfrauen in einer Art Defilee »gekeilt in drangvoll fürchterliche Enge«, durch welche Gordon nun hindurch mußte. Wirklich, das war nichts Leichtes, aber so schwer es war, so vergnüglich war es auch, und auf die Gefahr hin, überrannt zu werden, blieb er stehen und musterte die Szenerie. Weit hin standen die Himbeer-Tienen am Trottoir entlang, nur unterbrochen durch hohe, kiepenartige Körbe, daraus die Besinge, blauschwarz und zum Zeichen ihrer Frische noch mit einem Anfluge von Flaum, hervorlugten. In Front aber, und zwar als besondere Prachtstücke, prangten unförmige verspätete Riesenerdbeeren auf Schachtel- und Kistendeckeln, und dazwischen lagen Kornblumen und Mohn in ganzen Bündeln, auch Goldlack und Vergißmeinnicht, samt langen Bastfäden, um, wenn es gewünscht werden sollte, die Blumen in einen Strauß zusammenzubinden. Alles primitiv, aber entzückend in seiner Heiterkeit und Farbe. Gordon war ganz hingenommen davon, und erst als er sich satt gesehen und ein paar kräftige Atemzüge getan hatte, ging er weiter, um, an der Köthner-Straßen-Ecke rechts einbiegend, auf den Hafenplatz zuzuschreiten.
»Sie werden in dem Diebitschschen Hause wohnen. Etwas Alhambra, das paßt ganz zu meiner schönen Cécile. Wahrhaftig, sie hat die Mandelaugen und den tief melancholischen Niederschlag irgendeiner Zoë oder Zuleika. Nur der Oberst, bei allem Respekt vor ihm, stammt nicht von den Abenceragen ab, am wenigsten ist er der poetische Letzte von ihnen. Wenn ich ihn à tout prix in jenen maurischen Gegenden unterbringen soll, so ist er entweder Abdel-Kader in Person oder ein Riffpirat von der marokkanischen Küste.«
Während er noch so vor sich hin plauderte, stand er vor dem St. Arnaudschen Hause, das aber, wie die Nummer jetzt auswies, nicht das Haus mit der Alhambrakuppel, sondern ein benachbartes von kaum minderer Eleganz war, wie gleich sein Eintritt ihm zeigen sollte. Die Stufen waren mit Teppich, das Geländer mit Plüsch belegt, während die buntbemalten Flurfenster ein mattes Licht gaben. Eine Treppe hoch angekommen, las er: »Oberst v. St. Arnaud.«
Er klingelte. Niemand aber kam.
»Also noch verreist. Ich will's aber doch noch einmal versuchen. Solange die Herrschaften nicht da sind, sitzen die Dienerschaften auf den Ohren.«
Und er klingelte wieder.
Wirklich, ein hübsches Mädchen kam, eine Jungfer, etwas verlegen. Sie schien in einer intimen Unterhaltung gestört worden zu sein oder doch mindestens in ihrer Toilette.
»Die gnädige Frau schon zurück?«
»Erst heut über acht Tage.«
»Von Norderney?«
»Nein. Von dem Gut.«
»Ah, von dem Gut«, sagte Gordon, als ob er wisse, daß ein solches existiere. Dann ging er wieder, nachdem er sein Bedauern ausgesprochen hatte, die Herrschaften verfehlt zu haben.
»Also noch auf dem Gut. Das will sagen, auf dem Gute der Frau. Denn Obersten haben keine Güter. Es gibt zwar Dotationen, aber die kommen erst später, wenn sie überhaupt kommen.«
Und damit trat er wieder auf den Platz hinaus.
Kapitel Sechsundsiebzig
Erst in einer Woche sollte Cécile von dem Gute zurückkehren. Das erschien Gordon eine lange Zeit, und die Tage wollten kein Ende nehmen, noch weniger die Abende, was ihm Veranlassung gab, es mit dem Theater zu versuchen. Aber er empfand wieder ganz die Wahrheit dessen, was ihm einst ein Freund über Theater und Theaterbesuch gesagt hatte: »Man muß oft hingehen, um Vergnügen daran zu finden; wer selten hinkommt, leidet unter der Unwahrheit dessen, was er sieht.« Er gab also den Theaterbesuch wieder auf, vielleicht rascher, als recht und billig war, und mußt es schließlich noch als ein besonderes Glück ansehen, in dem ihm nahe gelegenen »Hôtel du Parc« einen ihm zusagenden Platz für Unterbringung seiner Abende zu finden. Er saß hier oft halbe Stunden lang und länger in dem schmalen Glaspavillon und las entweder die Zeitungen oder plauderte mit dem Wirt.
Eines Abends traf er in eben diesem Glaspavillon auch die beiden Berliner wieder, die, vom »Hotel Zehnpfund« her, ihm noch gut in der Erinnerung waren, und er würde sicherlich nicht versäumt haben, sie zu begrüßen, wenn sie nicht in Begleitung ihrer Damen gewesen wären, die, nachdem ihnen ganz ersichtlich Gordons Name zugetuschelt worden war, sofort Anstandsgesichter aufsetzten und jeden Versuch ihrer Ehemänner zu Fortführung einer unbefangenen oder gar heiter ungenierten Unterhaltung energisch ablehnten. In dieser erkünstelten Würde verharrten sie denn auch bis zuletzt und brachen, nachdem sie sich gegen den sie begleitenden und ihnen bekannten Wirt nur im letzten Momente noch mit verstecktem Lächeln verbeugt hatten, unter entsprechender Pomphaftigkeit auf.
»Kannten Sie die Herrschaften?« fragte Gordon. »Ich war im Juni mit ihnen in Thale zusammen; das heißt mit den beiden Herren. Da waren sie ganz anders, etwas laut, etwas sonderbar, so berlinisch.«
»Ja«, lachte der Wirt. »Das ist immer so. Richtige Berliner gibt es eigentlich nur noch draußen und auf Reisen. Zu Hause sind sie ganz vernünftig.«
»Besonders, wenn die Frauen dabei sind.«
»Ja, dann besonders.«
Zwei Tage später war die Zeit um, wo die St. Arnauds zurück sein wollten, und Gordon zählte jetzt die Stunden, um am Hafenplatz wieder vorzusprechen. Er bezwang sich aber und ließ abermals drei, vier Tage vergehen, eh er sich anschickte, seinen Antrittsbesuch zu machen.
Diesmal nahm er seinen Weg am Wrangelbrunnen und der Matthäikirche vorbei, welchen Umweg er nur der längeren Vorfreude halber wählte.
»Nun aber ist es Zeit.« Und damit bog er, vom Schöneberger Ufer her, links ein und passierte gleich danach die kleine, hier noch aus älterer Zeit her den Verkehr nach dem Hafenplatz hin vermittelnde Dreh- und Gitterbrücke. Schon von fern her sah er nach der Beletage hinauf und nahm nicht ohne Sorge wahr, daß die zusammengesteckten Gardinen nach wie vor die ganze Fensterbreite verdeckten. Als er aber die Treppe hinaufstieg und den letzten Absatz derselben glücklich erreicht hatte, ließ ihm die den Türrahmen einfassende Laubgirlande keinen Zweifel mehr, daß die Herrschaften zurückgekehrt sein müßten. Oben angekommen, fuhr er mit leiser Hand über das schon halb trockene Laub hin und sagte, wie wenn er an dem Raschelton die Zeit gemessen habe: »Drei Tage.«
Nun erst zog er die Glocke. Dasselbe nach Wesen und Sprechart oberschlesische Mädchen erschien wieder, das ihm schon bei seinem ersten Besuche geöffnet hatte, diesmal mit bemerkenswerter Raschheit. Er nannte seinen Namen, und einen Augenblick später kam Antwort: »Die gnädige Frau lasse bitten.«
Gordon folgte, den Korridor entlang, bis an den sogenannten Berliner Saal, an dessen Schwelle Cécile bereits stand und ihn begrüßte. Sie sah frischer und jugendlicher aus als in Thale, welchen Eindruck ein helles Sommerkostüm noch steigerte.
Gordon war wie betroffen, und einer fast ans Sentimentale streifenden Empfindung hingegeben, nahm er ihre Hand und küßte