Da wir uns lieben. Marie Louise Fischer. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Louise Fischer
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9788711718445
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würde. Also wäre es ein Unsinn, sie so rasch wie möglich abzutragen. Vielleicht würde es besser sein, die fünfundzwanzigtausend Mark als festes Darlehen zu verleihen, um so von den Zinsen, die er selbst einnahm, die Hypothekenzinsen zu tilgen und selbst noch ein paar Pfennige übrig behalten zu können. Dies alles mußte mit Ruhe überlegt und durchgerechnet werden – und woher Ruhe nehmen, wenn seine Familie eingeweiht war? Da er schon so lange geschwiegen hatte, war es das richtige, auch weiterhin den Mund zu halten.

      Natürlich nicht Rudolf Kienzel gegenüber. Den mußte er sofort benachrichtigen. Noch heute. Damit war keine Zeit zu verlieren, denn inzwischen war es schon Dienstag geworden. Er mußte ihm sofort nach Teneriffa telegrafieren. Glücklicher Rudolf! Der brauchte sich keine Gedanken darüber zu machen, wie er sein Geld anlegen würde – der konnte es ungestraft ausgeben, wie es ihm zugeflogen war. Das war der Vorteil, wenn man keine Familie hatte, keinen Menschen, für den man verantwortlich war, außer sich selbst.

      Nur jemand wie Rudolf Kienzel konnte sich erlauben, seinen Urlaub auf Teneriffa zu verbringen. Für ihn, Arnold Miller, wäre das nicht einmal dann in Frage gekommen, wenn er ganz allein hätte fliegen wollen, ganz davon abgesehen, daß er Sabine nicht einfach abhängen konnte. Rudolf war schon zu beneiden, auch deswegen, weil er sein eigener Herr war. Seine Schreibwarenhandlung war zwar nicht gerade eine Goldgrube, aber sie warf genug ab für ein sorgloses Junggesellenleben. Und er brauchte sich von niemendem hereinreden zu lassen. Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte man in Riesberg über Rudolf gewitzelt. Das war vor zehn Jahren gewesen, als ihm seine Frau, die lebenslustige hübsche Susanne, davongelaufen war. Schuldlos geschieden – das war nun einmal keine Empfehlung für männliche Qualitäten. Aber Rudolf hatte sich nichts aus dem Gespött gemacht, und allmählich war es verstummt. Im Grunde genommen konnte er nur froh sein, daß er Susanne los war, das war gar keine Frage. Sie war schon ein recht fleißiges Lieschen gewesen, immer noch Zielscheibe zahlreicher Stammtischwitze, natürlich nur in Abwesenheit des Exgatten, so taktvoll waren die Herren denn doch.

      Arnold Miller hatte das Inntaldreieck schon passiert, als die Schlagermusik jäh verstummte und das musikalische Zitat von »Bayern 3« ertönte. »Wir unterbrechen für einen Reiseruf«, meldete sich eine sympathische weibliche Stimme. »Herr Egon Kasparek aus Riesberg, zur Zeit unterwegs in Oberbayem in einem hellblauen VW Variant, amtliches Kennzeichen unbekannt, wird gebeten, sofort nach Hause zu kommen …«

      Miller war so in seine eigenen Gedanken versponnen, daß er erst bei der zweiten Durchsage aufmerksam wurde. Er erschrak, stellte das Autoradio lauter, aber inzwischen hatte sich schon wieder das »Spinnrad meiner Träume« zu drehen begonnen. Und doch, es bestand kein Zweifel, es war sein Schwager Egon Kasparek, der gesucht wurde. Wenn da nur nichts passiert war! Aber irgend etwas mußte los sein, denn ohne Grund wurde so ein Reiseruf doch nicht durchgegeben. Ob Rosy krank war? Oder die Zwillinge? Sabine hätte ihn auch aus solchem Anlaß bestimmt nicht suchen lassen, und schon gar nicht durch den Rundfunk. Aber bei Rosy war das etwas anderes, sie war so unselbständig, wirkte oft ganz einfach hilflos – oder hatte gar nicht sie selbst, hatten vielleicht Nachbarn den Reiseruf durchgeben lassen? Siedendheiße Angst überfiel Arnold Miller, die Ahnung einer Katastrophe. Er warf einen Blick auf die Uhr am Armaturenbrett, verglich sie mit dem Zifferblatt seiner Armbanduhr. Auf die Gefahr hin, daß Sabine das Abendessen verbrutzelte, er konnte jetzt nicht einfach nach Hause fahren; zuerst mußte er sich um die Kaspareks kümmern. Schließlich war Egon Sabines Bruder.

      Er blickte in den Rückspiegel, blinkte, gab Gas, und jetzt endlich gelang es ihm, den Möbelwagen zu überholen. Aber seine Knie waren weich, und er atmete auf, als er wieder auf die rechte Fahrspur hinüberschwenken konnte. Der Schock saß ihm noch in den Knochen.

      Die Kaspareks wohnten mitten in Riesberg, am Maximiliansplatz, der mit seinen Arkaden und den schmalen, eng aneinander gedrängten Häusern noch etwas von dem ursprünglichen Charakter der Stadt als mittelalterlichem Marktflecken bewahrt hatte, trotz Schaufenstern, Neonbeleuchtung, Bushaltestellen und Parkplatz.

      Als Arnold Miller auf den Maximiliansplatz einbog, stellte er mit Erleichterung fest, daß das Leben dort seinen normalen spätnachmittäglichen Verlauf nahm. Jetzt erst wurde ihm bewußt, daß er das Schlimmste erwartet hatte: ein Funkstreifenauto, einen Krankenwagen oder doch eine aufgeregte Menschenmenge. Was auch immer Rosy oder den Zwillingen zugestoßen war, es war jedenfalls nicht spektakulär genug, die Umwelt zu alarmieren. Der Berufsverkehr hatte sich schon aufgelöst; Miller konnte auf den Parkplatz einscheren, zahlte und lief mit großen Schritten auf das rosa und weiß gestrichene Haus zu, in dessen drittem Stock sein Schwager mit seiner Familie lebte.

      Die schwere Haustür neben der Drogerie unter dem Bogengang war unverschlossen. Miller hastete die Treppen hinauf. Hier, hinter den dicken Mauern, war es angenehm kühl. Die flachen Steinstufen waren ausgetreten, es roch nach Generationen von Bewohnern, ein Gemisch, das sich weder durch Schmierseife noch durch Scheuerpulver oder den verhältnismäßig neuen Ölanstrich der Wände vertreiben ließ. Arnold Miller drückte auf die Klingel unter dem Namensschild Egon Kasparek. In der Wohnung rührte sich nichts. Seine kaum beherrschte Angst flackerte wieder auf. Er klingelte noch einmal, diesmal anhaltend. Er wurde sich darüber klar, daß bei Rosy nichts unmöglich war. Vielleicht war er ja von Sabine beeinflußt, die von Anfang an gegen die Schwägerin eingestellt gewesen war, einfach deshalb, wie er manchmal dachte, weil ihr keine Frau gut genug für den geliebten Zwillingsbruder sein konnte.

      In Wirklichkeit war der begabte und charmante Egon keineswegs ein solches Prachtstück, wie sie gern wahrhaben wollte. Er hatte in seinem Leben vielerlei Berufe mit großem Elan angefangen und nach kurzer Zeit enttäuscht wieder aufgegeben, war Hundezüchter gewesen, hatte eine Nerzfarm betrieben, einen Eissalon, hatte versucht, in den Beamtenstand zu gelangen, war mit großen Hoffnungen nach Kanada ausgewandert und zwei Jahre später zurückgekehrt. Bisher hatte die kapriziöse Rosy tatsächlich einen guten Einfluß auf ihn gehabt. Seit die Zwillinge auf der Welt waren, also immerhin schon seit drei Jahren, arbeitete er als Manager des Supermarktes »Zentrum«, fünf Kilometer vor den Toren der Stadt, und bis jetzt wies nichts darauf hin, daß er vorhatte, sich nach etwas Neuem umzutun – wahrscheinlich wäre es ihm in seinem Alter auch nicht mehr ganz leicht gefallen, anderswo unterzukommen. Dennoch hatte die Familie den feinen, mißtrauischen Abstand Rosy gegenüber gewahrt.

      Jetzt stand Arnold Miller vor der verschlossenen Wohnungstür und begriff gar nichts mehr. Egon war doch durch den Reiseruf aufgefordert worden, sofort nach Hause zu kommen – aber was sollte das für einen Sinn haben, wenn er gar nicht hineinkam? Aber natürlich, er hatte ja einen Schlüssel, und trotzdem – Rosy oder sonst jemand mußte ihn doch hier erwarten. Oder war er schon vor ihm gekommen? Arnold Miller überlegte, ob er eine Nachbarin fragen oder besser gleich die Tür aufbrechen lassen sollte. Er wollte sich gerade abwenden, als er die Kinderstimmen hörte. Er bückte sich und rief durch den Briefkastenschlitz: »Andy! Chris! Macht auf! Ich bin’s, Onkel Arnold!« – Stille.

      »Himmel, laßt mich rein! Wo ist eure Mutter?« Er spürte mehr, als daß er es hörte, wie Rosy schwebenden Schrittes sich näherte, dann kam ihre Stimme von der anderen Seite der Tür: »Bist du es wirklich, Arnold?«

      »Verdammt noch mal, wer soll’s denn sonst sein?!«

      »Ich hatte dich nicht erwartet.«

      »Ich habe den Reiseruf gehört.«

      Rosy kicherte plötzlich – höchst unmotiviert, wie es Arnold schien. »Ach so!« Sie schloß die Tür auf, ließ aber die Kette vorgehängt, bis sie sich mit einem Blick überzeugt hatte, daß es wirklich ihr Schwager war, der draußen stand. Sie wirkte in ihrem superkurzen Minikleid, dem rotblonden zerzausten Haar, mit Spuren von Tränen auf den schmalen, fast hohlen Wangen, wie ein verängstigtes und zugleich doch mutwilliges Kind. Die Hand, die sie ihm reichte, war so dünn, daß man die Knöchlein und Sehnen hätte zählen können.

      Die Zwillinge schossen aus dem Hintergrund des dunklen Ganges hervor und schrien zweistimmig: »Onkel Anno, Onkel Anno, hassu uns was mittebacht?«

      »Nein, diesmal nicht!« Er hob sie einzeln hoch und ließ sich von jedem einen feuchten Schmatz verpassen. Danach verloren sie sofort das Interesse an ihm und schlitterten über die glatten Holzdielen davon.

      Arnold sah in die grünen