Ja, kennst du ihn, Olga?
Ich habe ihn gesehen. Ein Steward zeigte ihn mir.
Ich wusste nicht, dass er eine Berühmtheit ist, sagte der Graf.
Olga de Coude ging auf ein anderes Thema über. Es fiel ihr nämlich ein, dass es ihr schwer sein würde, zu erklären, warum der Steward gerade ihr den hübschen Tarzan gezeigt habe. Vielleicht errötete sie ein wenig, denn ihr Gatte sah sie mit einem sonderbar spöttischen Blick an. Ach, dachte sie, ein schuldiges Gewissen ist ein sehr verdächtiges Ding.
Ein rätselhafter Überfall
Erst spät am folgenden Nachmittag sah Tarzan die Reisegefährten, in deren Angelegenheiten ihn sein Ehrlichkeitsgefühl verwickelt hatte. Und dann stieß er ganz unerwartet auf Rokoff und Pawlowitsch, und zwar in einem Augenblick, wo es den beiden sicher am wenigsten erwünscht war.
Sie standen auf dem Deck an einer Stelle, wo sie gerade allein waren, und als Tarzan zufällig dorthin kam, befanden sie sich gerade in einem heftigen Streit mit einer Dame. Tarzan bemerkte, dass diese Dame vornehm gekleidet war. Ihre schlanke, frische Gestalt ließ auf ein jüngeres Alter schließen, ihre Züge konnte er nicht unterscheiden, da sie dicht verschleiert war. Sie stand zwischen den beiden Männern. Da diese Tarzan den Rücken zugekehrt hatten, konnte er ganz nahe an sie herankommen, ohne dass sie ihn wahrnahmen. Er sah, dass Rokoff zu drohen und die Dame zu bitten schien, aber sie sprachen in einer fremden Sprache, sodass er nur aus dem Anschein erraten konnte, dass die junge Dame sich fürchtete.
Rokoffs Haltung war so drohend, dass der Affenmensch einen Augenblick hinter dem Trio stehen blieb, da er unwillkürlich befürchtete, der rohe Mensch könnte handgreiflich gegen sie werden. Im selben Augenblick fasste dieser sie denn auch am Handgelenk, wie wenn er aus ihr ein Versprechen erpressen wollte. Er erreichte sein Ziel aber nicht, denn plötzlich wurde er mit stahlharten Fingern an den Schultern gefasst und mit solchem Schwung auf die Seite geworfen, dass er anfänglich gar nicht wusste, was ihm geschah. Erst als er aufblickte, sah er in die kalten grauen Augen des Fremden, der ihm am Tage vorher in die Quere gekommen war.
Donnerwetter! schrie der wütende Rokoff. Was fällt Ihnen ein? Sind Sie verrückt, dass Sie Nikolaus Rokoff wieder beleidigen?
Dies ist meine Antwort auf Ihr Briefchen, mein Herr! flüsterte ihm Tarzan zu. Und dann schleuderte er den Kerl mit solcher Wucht von sich, dass er gegen die Reling hinstürzte.
Donnerwetter noch mal! schrie Rokoff. Sie gemeiner Mensch, das kostet Ihnen das Leben! Und indem er aufsprang, stürzte er auf Tarzan los, während er einen Revolver aus seiner Tasche zu ziehen suchte.
Die junge Dame fuhr entsetzt zurück.
Nikolaus! rief sie, halt ein, tu das nicht, o tu das nicht! Und dem Fremden schrie sie zu: Schnell, fliehen Sie, mein Herr, sonst wird er Sie töten!
Statt aber zu fliehen, trat Tarzan auf den Menschen zu. Machen Sie sich nicht selbst unglücklich! sagte er. Rokoff war durch die erlittene Demütigung derartig in Raserei geraten, dass er den Revolver auf Tarzans Brust richtete. Der Hahn knackte, aber der erste Schuss versagte. Doch ehe der Wütende ein zweites Mal losdrücken konnte, hatte Tarzan mit raschem Griff den Revolver erfasst und ihn über die Reling hinaus in die See geworfen.
Einen Augenblick standen die beiden da und sahen einander an. Rokoff hatte sein Selbstvertrauen wieder erlangt. Er war der erste, der sprach.
Zweimal haben Sie sich nun berufen gefühlt, sich in Dinge zu mischen, die Sie nichts angehen. Zweimal haben Sie es aus eigenem Antrieb übernommen, mich zu demütigen. Die erste Beleidigung habe ich hingehen lassen, weil ich annahm, dass Sie in Unkenntnis handelten, aber diese Sache wird nicht übersehen werden. Wenn Sie nicht wissen, wer ich bin, so können Sie bei Ihrem jetzigen unverschämten Benehmen sicher sein, dass Sie später noch an mich erinnert werden.
Dass Sie ein Feigling und ein Schurke sind, mein Herr, erwiderte Tarzan, ist alles, was ich von Ihnen zu wissen brauche.
Er drehte sich um, um die Dame zu fragen, ob Rokoff ihr weh getan habe, aber sie war verschwunden.
Dann setzte er seinen Spaziergang auf dem Deck fort, ohne auch nur einen Blick auf Rokoff und seinen Gefährten zu werfen.
Tarzan hätte gerne gewusst, welche Verschwörung im Gange war oder welche Pläne die beiden Männer hatten. Die verschleierte Dame, der er soeben beigestanden hatte, kam ihm einigermaßen bekannt vor, aber da er ihr Gesicht nicht gesehen, war er nicht sicher, ob es ihm schon einmal begegnet war. Das einzige, was ihm an ihr aufgefallen, war ein Ring von besonderer Arbeit an der Hand, die Rokoff erfasst hatte. Er beschloss deshalb, auf die Finger der weiblichen Passagiere, die ihm begegnen würden, zu achten, um die Dame zu entdecken, die Rokoff verfolgte, und zu erfahren, ob er sie noch weiter belästigt habe.
Als Tarzan seinen Stuhl auf dem Verdeck wieder aufgesucht hatte, musste er über die zahlreichen Beispiele menschlicher Grausamkeit, Selbstsucht und Gehässigkeit nachdenken, deren Augenzeuge er gewesen war von dem Tage an, wo er vor vier Jahren zum ersten Mal ein anderes menschliches Wesen im Dschungel erblickt hatte: den glatten schwarzen Kulonga, dessen geschickter Pfeil an jenem Tage Kala, die große Äffin, getötet und den jungen Tarzan der einzigen Mutter, die er je gekannt, beraubt hatte.
Er dachte auch an die Ermordung Kings durch den Matrosen Snipes mit dem Rattengesicht, an die Aussetzung des Professors Porter und dessen Gefährten durch die Meuterer der »Arrow«, an die Grausamkeit der schwarzen Krieger und Frauen Mbongas gegen ihre Gefangenen und an die kleinliche Missgunst der bürgerlichen und militärischen Beamten der Westküsten-Kolonie, wo er zum ersten Mal in die Kulturwelt eintrat.
Mein Gott, sagte er zu sich selbst, sie sind alle gleich. Betrügen, morden, lügen, sich zanken, und alles das für Dinge, die die Tiere im Dschungel nicht besitzen möchten: Geld, um sich die Annehmlichkeiten weibischer Schwächlinge zu verschaffen. Und bei alledem sind sie durch törichte Gewohnheiten eingeengt, die sie zu Sklaven ihres unglücklichen Loses machen, während sie fest glauben, dass sie, die Herren der Schöpfung, die einzig wahren Freuden des Lebens genießen. Es ist die törichte Welt, auf die Freiheit und das Glück im Dschungel zu verzichten, um in jene Welt einzutreten.
Als er da saß, hatte er plötzlich das Gefühl, dass er hinter seinem Rücken beobachtet wurde, und der alte Instinkt des wilden Tieres brach durch die dünne Tünche der Kultur. Tarzan drehte sich so schnell