Lost Island. Annika Kastner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Annika Kastner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783947115204
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Gro­ßes oder Auf­fäl­li­ges. Statt­des­sen ha­be ich nach ei­nem Ort ge­sucht, der ab­ge­le­gen und sich weit weg be­fin­det. Hier ha­be ich ihn ge­fun­den. Ei­ne klei­ne In­sel mit we­ni­gen Ein­woh­nern, ab­ge­schot­tet von der rest­li­chen Welt. Die Uhren schei­nen hier lang­sa­mer zu lau­fen, als auf der ver­blei­ben­den Welt. Hin­zu kommt, dass ich die Mie­te bar zah­len kann, so­lan­ge ich dem je­den Monat pünkt­lich nach­kom­me.

      Mei­ne Ge­dan­ken schwir­ren wild hin und her. Jetzt, wo ich den Schlüs­sel im Schloss zu der Tür mit den Er­in­ne­run­gen in mei­nem Kopf ge­öff­net ha­be, rau­schen die Bil­der nur so her­aus. Ich schlucke den Kloß in mei­nem Hals run­ter, spü­le mit ei­nem Schluck Wein nach. Dr. Con­ners kal­te Augen ver­fol­gen mich je­de Nacht in mei­nen Träu­men. Ich ha­be das Ge­fühl, ihn durch mei­ne Flucht zu ver­ra­ten. Ma­ry wird wis­sen wol­len, was pas­siert ist, sie hat das Recht da­zu, die Wahr­heit zu ken­nen. Ich wür­de es an ih­rer Stel­le auch er­fah­ren wol­len, doch die­sen Ge­fal­len kann ich ihr nicht tun, ge­schwei­ge denn, mein Bei­leid be­kun­den. Vor sei­nen Bli­cken in mei­nen Träu­men bin ich macht­los, da­vor kann ich nicht weg­lau­fen. Ein so gut­mü­ti­ger Mann und dann die­ser schre­ckli­che Tod. Er hat es kei­nes­falls ver­dient, nie­mand hat das. So sehr ich ver­su­che, die Bil­der zu ver­drän­gen, de­sto prä­sen­ter sind sie.

      All das Geld, was für mein Stu­di­um be­stimmt ge­we­sen ist, eben­so all das Geld, was mei­ne Eltern mir ver­erbt ha­ben und das, was ich mir selbst zur Sei­te ge­legt ha­be – es wird ei­ni­ge Zeit rei­chen, da­nach se­he ich weiter. Ich wer­de Gras über die Sa­che wach­sen las­sen, ehe ich mir viel­leicht ei­nen Job su­che. Ein bis zwei Jah­re kann ich so durch­hal­ten, wenn ich spar­sam blei­be. Ich ha­be mein al­tes Auto ver­kauft, an Men­schen, die sich nicht mit Pa­pie­ren auf­hal­ten, und mir ei­nen neu­en Wagen an­ge­schafft, von den­sel­ben Leu­ten, zu­sam­men mit ei­nem neu­en Na­men. Aus Ha­zel Sum­mer ist Ha­zel Smith ge­wor­den. Ich weiß, es ist ris­kant, Ha­zel zu be­hal­ten, aber außer mei­nem Vor­na­men ist mir nichts ge­blie­ben.

      Mei­ne da­mals dun­kel­rot ge­färb­ten Haa­re, sind heu­te natur­blond, zu­dem viel län­ger als frü­her. Aus dem mo­di­schen Bob ist jetzt ei­ne lan­ge Mäh­ne ge­wor­den, die weit über mei­nen Rü­cken hin­ab­fällt. Manch­mal er­ken­ne ich mich selbst kaum wie­der und doch bin es ir­gend­wie immer noch ich. Wie kann ich mir so fremd sein?

      Ich bin bis auf die­se klei­ne In­sel ge­flüch­tet, hier kann ich für mich sein. Nur zum Ein­kau­fen muss ich mein Grund und Boden ver­las­sen. Seit drei Wo­chen bin ich jetzt hier, hof­fe, dass ich mich ir­gend­wann hei­misch füh­len und mir wie­der ein we­nig mehr Le­ben auf­bauen kann. Es ist so schwer ge­we­sen, et­was zu fin­den, wo ich mich auch nur an­satz­wei­se si­cher füh­le. Si­cher? Lach­haft. Aber hier, Meilen um Meilen von dem Ort mei­ner Alb­träu­me ent­fernt, schaf­fe ich es mög­li­cher­wei­se, ein we­nig zu mir selbst zu fin­den. Storm und ich. Du bist nicht allei­ne, er­in­ne­re ich mich. Mit ei­nem mü­den Lä­cheln pro­ste ich Storm zu: »Wir bei­de meis­tern das!« Er hebt den Kopf von mei­nen Bei­nen an, legt ihn schief zur Sei­te. Sei­ne treu­en Augen mus­tern mich auf­merk­sam. Was mei­ne Grand­ma wohl macht? Sie fehlt mir am meis­ten, immer­hin ist sie mei­ne allei­ni­ge noch le­ben­de Ver­wand­te. Ein­zig durch mein Ver­schwin­den ist sie eben­falls in Si­cher­heit. Das ist alles, was zählt, egal wie sehr sie mir fehlt. Storm brummt, stupst mir mit der Na­se auf­for­dernd ans Bein. »Du hast schon wie­der Hun­ger, was?« Er dreht sich auf­ge­regt im Kreis, wo­rauf­hin ich ki­chern muss. »Okay, ver­stan­den.«

      Mo­ti­viert ste­he ich auf. Ab jetzt wird alles an­ders, und da­mit fan­ge ich direkt an – ich wer­de mal wie­der et­was Le­cke­res für mich ko­chen. Mei­ne Klei­dung ist viel weiter ge­wor­den, zu weit. Kum­mer und Angst ha­ben mir den Ap­pe­tit ge­nom­men. Das Es­sen an den Rast­stät­ten hat den Rest da­zu beige­tra­gen. Kum­mer schlägt mir auf den Ma­gen, seit eh und je. Das liegt jetzt hin­ter mir, er­in­ne­re ich mich aber­mals. Ich trin­ke den Rest Wein auf Ex, neh­me das lee­re Glas mit in die Kü­che, die schon bald nach fri­schen Kräu­tern, Knob­lauch und To­ma­ten­sau­ce duf­tet. Mei­ne Vor­rä­te, die ich mit­ge­bracht ha­be, ge­hen lang­sam zu Nei­ge, al­so wer­de ich in ab­seh­ba­rer Zeit über mei­nen Schat­ten sprin­gen müs­sen und das er­ste Mal den Super­markt der klei­nen In­sel auf­su­chen. Das wird wohl mein größ­ter Test wer­den: Ein­kau­fen ge­hen wie je­der nor­ma­le Mensch, auch wenn es mir Un­be­ha­gen be­schert. Kei­ne gro­ße Sa­che, das kann ich schaf­fen, den­ke ich, wäh­rend ich ei­ne Ker­ze an­zün­de und mich an den Tisch set­ze. »Will­kom­men in dei­nem neu­en Le­ben«, murm­le ich, ehe ich es mir schme­cken las­se.

Seil

      Vogel­ge­zwit­scher weckt mich am näch­sten Mor­gen, wäh­rend ein paar Son­nen­strah­len vor­wit­zig durch die Roll­lä­den schei­nen, dem Boden so ein neu­es Mus­ter ver­pas­sen. Gäh­nend schaue ich zum We­cker, hal­te über­rascht in­ne. Es ist fast neun Uhr. Wow, wenn das mal kein gu­tes Zeichen ist! Sonst wa­che ich immer viel frü­her auf. Wenn die Träu­me mich quä­len, ist an weiter­schla­fen nicht zu den­ken, aber so spät? Wahn­sinn. Ich füh­le mich so­gar ziem­lich aus­ge­ruht und er­frischt. Was ein Gläs­chen Wein und gu­tes Es­sen so be­wir­ken kann! Ich stre­cke mich, ge­nie­ße das Zie­hen mei­ner Mus­keln, schaue ne­ben das Bett. Fei­xend mus­te­re ich mei­nen Hund, der auf dem Rü­cken liegt, alle Vie­re von sich ge­streckt und lei­se schnar­chend. Die­ser An­blick ist herz­er­wär­mend, ent­lockt mir je­den Tag aufs Neue ein Lä­cheln.

      »So ein Wach­hund«, murm­le ich mit er­ho­be­nen Mund­win­keln, schlei­che kopf­schüt­telnd aus dem Zim­mer, um Storm nicht zu we­cken. Die­ser Hund ist die reins­te Schnarch­na­se – ver­mut­lich gibt es ein Faul­tier un­ter sei­nen Ah­nen. Aber er passt zu mir, sein Le­ben ist ge­nau­so hart ge­we­sen wie meins. Er ist ein Kämp­fer. Ich ha­be ihn in ei­nem Stra­ßen­gra­ben ge­fun­den. Ein klei­nes dre­cki­ges Häuf­chen Elend, wel­ches zu stark zum Ster­ben ge­we­sen ist. Sei­ne Ge­schwis­ter ha­ben es nicht ge­schafft, nur er hat über­lebt – ver­ges­sen vom Rest der Welt, weg­ge­wor­fen in ei­ner Kis­te, zurück­ge­las­sen und nicht ge­wollt. Er trägt Spu­ren und Nar­ben wie ich. In­ner­lich so­wie äu­ßer­lich, denn ihm fehlt ein hal­bes Ohr, für mich ist er je­doch per­fekt. Als ich ihn an­ge­se­hen ha­be, ist mir so­fort klar ge­we­sen, er ge­hört zu mir und ich ge­hö­re zu ihm. Das Schi­cksal hat ge­wollt, dass wir uns fin­den und uns ge­gen­sei­tig hel­fen, zu über­le­ben. Viel­leicht ist es al­bern, ans Schi­cksal zu glau­ben, mag sein, aber ich will nicht für immer ein­sam blei­ben. Storm gibt mir das Ge­fühl, nicht mehr allein sein zu müs­sen, er ist mei­ne neue Fa­mi­lie. Vor al­lem liebt er mich, wie ich bin.

      Tie­fe Trau­er über­kommt mich, als ich an mei­ne Freun­de und mei­ne Groß­mutter den­ke. An Sil­vi, mei­ne be­ste Freun­din, die hoch­schwan­ger ge­we­sen ist, als ich ver­schwun­den bin. Ich wer­de ihr Kind nie ken­nen­ler­nen, da­bei soll­te ich die Patent­an­te wer­den. Das ist nun ein an­de­res Le­ben. Ich un­ter­drü­cke die Trä­nen, be­gin­ne da­mit, mir Früh­stück zu ma­chen. Nach­ein­an­der schla­ge ich die Ei­er in ei­ne Schüs­sel, fü­ge Voll­korn­mehl hin­zu und et­was Milch, ei­nen Hauch Va­nil­le und ei­ne Mess­er­spit­ze Back­pul­ver, ehe ich lang­sam Pfann­kuchen in der guss­eiser­nen Pfan­ne aus­backe. Der Duft lässt mei­nen Ma­gen knur­ren, mir das Was­ser im Mund zu­sam­men­lau­fen, und hellt die trü­ben Ge­dan­ken auf. Nicht da­ran den­ken, sa­ge ich mir immer wie­der. Neu­es Le­ben! Nicht da­ran den­ken, denn das macht alles