Lost Island. Annika Kastner. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Annika Kastner
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783947115204
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Ich rich­te mich auto­ma­tisch auf, star­re ins Zim­mer un­se­res Pa­tien­ten. Ein wei­te­res Zi­schen er­klingt, wo­nach mein väter­li­cher Kol­le­ge vor mir zu Boden geht. Sei­ne Augen bli­cken mir leer ent­ge­gen, in sei­ner Stirn prangt ein Loch, aus dem Blut auf den Boden rinnt. Mein Herz bleibt ge­fühlt ste­hen, als ich den Kra­ter in sei­nem Kopf se­he. Ich ver­ste­he nicht, was ich da ge­ra­de er­bli­cke oder was pas­siert ist. Wa­rum …? Was …? Ich wi­sche mir über das Ge­sicht, schaue mei­ne Fin­ger an. Sie sind rot – von sei­nem Blut, wel­ches mir ins Ge­sicht ge­spritzt ist. Käl­te und Angst brei­tet sich in Wel­len in mir aus, als lang­sam durch­si­ckert, dass Dr. Con­nor mit ei­ner Kugel im Kopf vor mir liegt. Er ist tot, ver­su­che ich das Bild, wel­ches sich mir bie­tet, zu ver­ste­hen, wi­sche mir aber­mals über die Wan­gen und rei­be mein Ge­sicht. Blut, sein Blut. Mein Herz schlägt wie­der, häm­mert nun wild ge­gen mei­ne Brust. Es sind erst we­ni­ge Se­kun­den ver­gan­gen, seit er vor mir zu­sam­men­ge­sackt ist, für mich fühlt es sich je­doch wie Stun­den an. Die Zeit scheint lang­sa­mer zu lau­fen. Ich schaue schlep­pend hoch, se­he nun den Poli­zis­ten, der den Zeugen be­wachen soll­te, an des­sen Kop­fen­de ver­har­ren, mit der Waf­fen­mün­dung auf mich ge­rich­tet. Mein Ge­hirn steht un­ter Schock, kann die Si­tua­tion nicht rich­tig er­fas­sen, aber weiß, hier läuft et­was falsch. Un­se­re Bli­cke tref­fen sich für ei­ne Se­kun­de, sei­ne Vi­sa­ge brennt sich in mei­nen Schä­del ein. Das blu­ti­ge Bild des­sen, was er an­ge­rich­tet hat, eben­falls.

      Dunk­les Rot be­su­delt das ehe­mals wei­ße La­ken, der Zeu­ge blickt mich aus eben­so lee­ren Augen an, wie der gut­mü­ti­ge Dr. Con­nor, des­sen La­chen ich nie wie­der hö­ren wer­de und des­sen Frau heu­te ver­geb­lich auf ihn war­ten wird. Ich ver­su­che, all das zu be­grei­fen, doch mein Kopf spielt nicht mit – ich ver­lie­re da­durch wert­vol­le Se­kun­den. Der Po­li­zist vi­siert mich an, lä­chelt leicht, was nicht zu dem Drum­he­rum, wel­ches sich mir of­fen­bart, passt. Ich fol­ge sei­nen Be­we­gun­gen mit den Augen. Dann setzt mein Ver­stand end­lich wie­der ein, Adre­na­lin durch­flu­tet mei­nen Körper. Nein, ich wer­de hier nicht ster­ben. Nie­mals. Über­lebens­wil­le packt mich: Ich schleu­de­re ihm mein Klemm­brett mit Schwung ent­ge­gen, denn es ist das Ein­zi­ge, was ich ge­ra­de ha­be, um mich zu schüt­zen. Er hebt den Arm, will es ab­wen­den, und drückt gleich­zei­tig ab. Die Kugel streift mei­nen lin­ken Ober­arm. Ich schreie hei­ser auf, mer­ke den Schmerz aber kaum, zu sehr bin ich mit Adre­na­lin voll­ge­pumpt. Das Klemm­brett lan­det pol­ternd auf dem Boden, wo­rauf­hin ich die Gunst der Stun­de nut­ze, her­um­wir­be­le und mei­ne Bei­ne in die Hand neh­me, denn ich muss hier raus – und zwar so­fort. Wenn ich le­ben will, was ich de­fi­ni­tiv möch­te, soll­te ich hier weg. So schnell es geht.

      Mei­ne Fü­ße set­zen sich wie von selbst in Be­we­gung, flie­gen förm­lich über den Boden, Schmer­zen spü­re ich noch immer kei­ne. Mein Körper hat die Kon­trol­le über­nom­men, hilft mir, alles zu ge­ben. Ich hö­re Schrit­te hin­ter mir, und ein lei­ses Flu­chen, doch ich bin schnel­ler, nut­ze den Vor­sprung, den ich mir er­ar­bei­tet ha­be. Schon immer bin ich ei­ne gu­te Läu­fe­rin ge­we­sen, ei­ne sehr gu­te so­gar. Auch wenn ich lan­ge nicht mehr beim Trai­ning ge­we­sen bin, mei­ne Mus­keln ha­ben es nicht ver­ges­sen. Ich rei­ße ei­nen Me­di­ka­men­ten­wagen, der ver­las­sen im Gang steht, um. Schep­pernd ver­tei­len sich die klei­nen Do­sen und Fla­schen hin­ter mir auf dem Boden, wo­durch ich ihm für ei­ni­ge Se­kun­den den Weg ver­sper­re und mir mehr Puf­fer ver­schaf­fe.

      Ei­ne weite­re Kugel fliegt an mir vor­bei. Ich schreie auf, als sie die Wand links ne­ben mir trifft und sich dort in den Putz bohrt. Ich schla­ge ei­nen Ha­ken wie ein Ha­se, ver­su­che da­bei, ihm kein gu­tes Ziel zu sein. Der Mann hin­ter mir flucht nun laut und un­ge­hal­ten, tritt oben­drein den Me­di­ka­men­ten­wagen aus dem Weg. Schlit­ternd blie­be ich an ei­ner Tür zu ei­nem der ver­las­se­nen Pa­tien­ten­zim­mer ste­hen, ren­ne hin­ein und wer­fe sie mit ei­nem lau­ten Knall hin­ter mir zu. Erst mal aus dem Schuss­feld sein, das ist gut.

      »Oh Gott«, flüs­te­re ich schluch­zend, sper­re mit zit­tern­den Fin­gern die Tür ab. Je­der von uns hat ei­nen Ge­ne­ral­schlüs­sel, den ich zu­vor nie be­nutzt ha­be, aber es gibt schließ­lich für alles ein er­stes Mal. Kon­zen­trie­re dich, herr­sche ich mich selbst an und end­lich dreht sich der ver­damm­te Schlüs­sel im Schloss. Lang­sam ent­ferne ich mich von der Tür, mein Brust­korb hebt und senkt sich hek­tisch, mein Herz hüpft mir fast aus der Brust.

      Nur we­ni­ge Se­kun­den spä­ter trom­melt es laut ge­gen die Tür, lässt sie in den An­geln er­zit­tern, wo­rauf­hin ich ei­nen wei­te­ren Satz nach hin­ten ma­che. Die Klin­ke wird hoch und run­ter ge­drückt, Trä­nen ver­ne­beln mir die Sicht. Das kann nicht wahr sein. Das ist ein Alb­traum! Bit­te, fle­he ich, lass mich auf­wachen, doch lei­der ist es kein Traum. Es ist bit­te­re Rea­li­tät und ich sit­ze fest. Ich muss ei­nen Aus­weg fin­den. Mei­ne Taschen sind leer, mein Han­dy steckt zum Auf­laden im Schwes­tern­zim­mer an der Steck­do­se. Die Tele­fo­ne im Zim­mer sind ab­ge­stellt. »Bit­te nicht«, flüs­te­re ich er­stickt, tre­te weiter nach hin­ten, bis mein Rü­cken die kal­te Wand trifft. Ich sin­ke da­ran hi­nab, be­ge­be mich in die Ho­cke, fah­re mir mit bei­den Hän­den über das Ge­sicht. Wa­rum kommt denn nie­mand? Je­mand wird mei­ne Schreie ge­hört ha­ben. Es muss mir doch je­mand hel­fen. Dr. Con­ner, er …

      »Mach die­se be­schis­se­ne Tür auf«, flucht mein Ver­fol­ger auf der an­de­ren Sei­te. »Dir wird nie­mand glau­ben, Mists­tück. Nie­mand, hörst du? Wir ma­chen dich fer­tig. Ich bin Po­li­zist. Wir ha­ben über­all Män­ner. Ich wer­de dich tö­ten oder ih­nen weis­ma­chen, dass du mit uns un­ter ei­ner De­cke steckst. Hörst du? Dein Wort ge­gen meins. Du bist so oder so tot«, zischt er. Ich hö­re die Wut in sei­ner Stim­me, glau­be ihm je­des Wort. Sie alle sind ge­fähr­lich, er ge­hört zu der Gang. Sie ha­ben die Poli­zei un­ter­wan­dert und wer weiß, wen noch. Ich wer­de schnel­ler tot sein, als ich aus­sa­gen kann – da hat er recht. Wenn nicht er, wird je­mand an­de­res da­für sor­gen, soll­te ich hier raus­kom­men. Wenn je­mand wie er hilft, wem soll ich dann trauen? Wem kann ich über­haupt trauen? Das er­schüt­tert mich bis in die tief­sten Win­kel mei­nes Ver­standes. Ich will kei­nes­wegs ster­ben.

      Blut rauscht durch mei­ne Oh­ren. Ich ha­be das Ge­fühl, nicht ge­nü­gend Luft zu be­kom­men, zer­re an mei­nem Kra­gen, um mir Platz zu er­zwin­gen. Ei­ne Pa­ni­kat­ta­cke, ich ken­ne je­des Sym­ptom, nur hilft mir die­ses Wis­sen ge­ra­de nicht. Mein Ver­such, ru­hig und gleich­mä­ßig zu at­men, ge­lingt mehr schlecht als recht. Du musst nach­den­ken, er­mah­ne ich mich selbst, wäh­rend ich mich hoch­stem­me und mich, auf der Su­che nach ei­nem Aus­weg, im Kreis dre­he. Mein pan­is­cher Blick bleibt am Fens­ter hän­gen, als er sich aber­mals ge­gen die Tür wirft. Lan­ge wird sie nicht mehr hal­ten, das Holz split­tert be­reits.

      Mit wild klop­fen­dem Her­zen und zit­tri­gen Fin­gern öff­ne ich das Fens­ter, schaue hi­nab zu Boden. Alles läuft wie in ei­nem Film ab – han­deln oder kampf­los auf­ge­ben. Ich muss wäh­len. Er­ste Eta­ge, das kann ich pa­cken. Die Zim­mer auf die­ser Sei­te lie­gen mit den Fens­tern zum Wald. Ich muss es nur bis da­hin schaf­fen. Sprin­gen und lau­fen, da­bei hof­fen, dass mir beim Sturz nichts pas­siert. Das klingt nach ei­nem ak­zep­ta­blen Plan. Was ha­be ich auch für ei­ne Al­ter­na­ti­ve? Hier­blei­ben und re­si­gnie­ren? Lie­ber bre­che ich mir, bei dem Ver­such mein Le­ben zu ret­ten, den Hals, als es ihm so leicht zu ma­chen.

      Wäh­rend die Tür hin­ter mir lang­sam nach­gibt, stei­ge ich aufs Fens­ter­brett, wo­bei mei­ne Bei­ne sich wie Pud­ding an­füh­len.