Und doch war es nicht seine Ballbehandlung, mit der Neymar Jr. erstmals auf sich aufmerksam machte. Mit großer Begeisterung erzählt Roberto Antônio dos Santos, genannt Betinho, von seiner ersten Begegnung mit Neymar: „Das war Ende 1998. Ich schaute mir am Strand von Itararé in São Vicente ein Spiel an, Tumiaru gegen Recanto de la Villa. Ich machte mir Sorgen um meinen Sohn und guckte, wo er abgeblieben war, als ich einen kleinen Junge bemerkte, dünn wie eine Harke, mit kurzem Haar und spindeldürren Beinen. Er rannte die Tribüne, die für das Spiel aufgebaut worden war, rauf und runter. Er lief mühelos – als würde er im Flachen laufen, als gäbe es keine Hindernisse – und ohne auch nur eine Sekunde innezuhalten. Seine Fitness, Geschicklichkeit und Koordination haben mich beeindruckt. Das war ungewöhnlich für einen so winzigen Burschen und ließ mich aufhorchen. Mir kam ein Gedanke. Ich fragte einen Freund, ‚Wer ist dieser Junge?‘, und er sagte, es sei der Sohn von Neymar Pai, der für Recanto spielte und soeben einen Elfmeter verschossen hatte. Ich sah mir den Vater an: Er war gut gebaut und verfügte über eine gute Ballkontrolle. Ich sah mir Nadine an, die ebenfalls beim Spiel war: Sie war großgewachsen und schlank. Bei solchen Eltern war klar, dass Neymar Jr. gute Gene haben müsste. Also fragte ich mich, wie der Kleine wohl Fußball spielte.“ Und so wurde der Star entdeckt, über den heute alle sprechen.
Betinho ist zum Zeitpunkt unseres Gesprächs 56 Jahre alt und lacht viel, während er erzählt. Er spielte früher selbst auf Amateurebene als Rechtsaußen. Betinho stammt aus São Vicente und arbeitet für die Jugendabteilung von Santos. Auf der Suche nach Talenten bereist er ganz Brasilien und den Rest der Welt. 1990 entdeckte Betinho in Beira Mar, einem Futsal-Klub aus São Vicente, einen Jungen namens Robson de Souza alias Robinho. Robinho spielte später unter anderem bei Real Madrid und heute für den AC Mailand.
In seinem Büro im zweiten Stock von Vila Belmiro, dem Stadion des FC Santos, sprudelt es förmlich aus Betinho heraus, als er vom jungen Neymar Jr. erzählt: „Damals trainierte ich Clube de Regatas Tumiaru. Ich stellte ein Team aus jungen Burschen der Jahrgänge 1991 und 1992 zusammen, das in der Liga von São Vicente antreten sollte. Nach dem Spiel erkundigte ich mich bei seinem Vater, ob ich Neymar Jr. zum Probetraining nach Tumiaru mitnehmen dürfe. Neymar Pai war einverstanden, und der Junge kam mit mir mit. Als ich ihn das erste Mal am Ball sah, fing mein Herz wie verrückt zu klopfen an. Ich erkannte seine außerordentliche fußballerische Begabung, sah sein Potenzial. Mir war klar, dass der Blitz zweimal am selben Ort eingeschlagen hatte. Erst Robinho und nun ein weiteres Juwel, beide aus São Vicente. Fußballtalente findet man vor allem dort, wo Kinder am bedürftigsten sind. Und in São Vicente gibt es viele Menschen, die aus ärmeren Regionen stammen. Familien, die es sich nicht leisten können, in Santos zu wohnen, weil es zu teuer ist. Das macht es zu einer Goldmine für Talente.“
Es ist beinahe unmöglich, Betinho in seinem Redefluss zu unterbrechen. Aber ich will verstehen, wie er nur dadurch, Neymar Jr. die Tribünen auf und ab laufen zu sehen, erahnen konnte, dass aus ihm ein guter Fußballer werden könnte. Betinhos Antwort ist hinreißend: „Gott hat mir das Talent gegeben, Spieler zu erkennen, die den Unterschied machen und den anderen einen Schritt voraus sind.“ Als er Neymar entdeckte, arbeitete Betinho schon seit fünf oder sechs Jahren als Talentscout, was ihm neben der göttlichen Unterstützung sicher auch ein bisschen dabei geholfen hat, die Begabung des Jungen aus Mogi das Cruzes zu erkennen.
Aber was waren Juninhos hervorstechende Talente in diesem jungen Alter? „Fußball kam bei Neymar Jr. von innen heraus. Mit sechs Jahren hatte er schon seinen eigenen Stil. Er war schnell und selbstsicher, er war unheimlich einfallsreich und hatte die Gabe, aus nichts etwas zu machen. Er liebte es, zu dribbeln, konnte schießen und hatte keine Angst, es mit jedem Gegenspieler aufzunehmen. Er war anders als die anderen, du hättest ihn mit 200 Kindern im gleichen Alter rausschicken können, und er wäre trotzdem aufgefallen.“
Betinho steht auf, um seine Grundauffassung zu erläutern, die von der Musik ausgeht, insbesondere dem Samba. „Wenn ich Samba auflegte, tanzte, drehte und bewegte er sich genau so, wie er es mit dem Ball am Fuß tat.“ Trotz seines leichten Übergewichts deutet Roberto Antônio dos Santos ein paar Schritte an, um zu zeigen, dass man ohne geschmeidige Bewegungen der Hüfte und Beine kein großer brasilianischer Fußballer werden kann. „Neymar setzte damals die Ginga ein“, sagt Betinho.
Die Ginga ist der Grundschritt beim Capoeira, der brasilianischen Kampfkunst, die von afrikanischen Sklaven ins Land gebracht wurde. Sie kombiniert Kampf, Tanz, Musik und körperliche Ausdrucksformen. Ginga erfordert koordinierte Bewegungen der Arme und Beine, die es dem Angreifer unmöglich machen, einen festen Angriffspunkt zu fixieren, so dass er zu einer aussichtslosen Attacke verleitet wird, die dem capoeirista einen Gegenangriff ermöglicht. Das Wort Capoeira steht für Bewegungen des Körpers, die Sinnlichkeit, Tücke, Geschick oder Gewandtheit darstellen. Der Begriff geht möglicherweise auf das altfranzösische jangler zurück, was sich wiederum aus dem lateinischen ioculari ableitet, das „spaßen, scherzen“ bedeutet.
Davon abgesehen, ist Ginga etwas Magisches, etwas, das den Brasilianern in die Wiege gelegt wird, eine Gabe, ein angeborenes Bewegungstalent: für den Fußball, für das Tanzen und dafür, den Gegner auf dem Fußballfeld zu narren. Ginga ist die Seele des brasilianischen Fußballs. Und diese Eigenschaft besaß Juninho seinem Entdecker zufolge schon im Alter von sechs Jahren im Überfluss. „Was ihm fehlte, waren Kraft und Ausdauer, was für ein Kind in seinem Alter völlig normal ist“, fährt Betinho fort. „Er musste seine Fähigkeiten und seine Technik verbessern und verfeinern, indem er innerhalb einer Mannschaft spielte, ohne seine Begeisterung für das Dribbling zu verlieren.“
Betinho tat alles dafür, um Juninho in seiner Entwicklung zu fördern. Er nahm ihn zu einem Futsal-Turnier im benachbarten Jabaquara mit. Das Team gewann den Pokal. Neymar Jr. war bester Torschütze und bester Spieler des Turniers. Betinho nahm den jungen Neymar außerdem zu den Vereinen mit, die er trainierte: Portuguesa, Gremetal und danach noch einmal Portuguesa.
Mit seinem Lockenkopf und ein paar fehlenden Milchzähnen begann Neymar sich im weißen Trikot mit dem himmelblauen Streifen und dem Wappen mit den gekreuzten Rudern auf der Brust einen Namen zu machen, vor allem auf dem farbigen Parkett des Futsal-Feldes. (Futsal, bei dem mit Mannschaften aus fünf Spielern und kleinerem Ball in der Halle gespielt wird, wurde 1933 in Montevideo von Professor Juan Carlos Ceriani Gravier erfunden, der seinen Studenten ermöglichen wollte, in einer kleinen Sporthalle Fußball zu spielen.) Er trug die Nummer 7, und auf seinem Mitgliedsausweis des Clube de Regatas mit der Nummer 1.419 schaut der junge Star ziemlich ernsthaft drein.
Betinhos Hoffnungen erfüllten sich. Er wusste, dass er ein echtes Juwel in Händen hatte. „Neymar war anders: Er war ein sehr intelligenter Spieler“, fährt er fort. „Sein Geist arbeitete schnell, er sah Dinge, bevor die anderen es taten. Er war immer einen Schritt voraus. Er wusste, wo der Ball landen und wie sein Gegner reagieren würde. Er nahm sich meinen Rat und den der anderen Trainer zu Herzen. Dann verarbeitete er die Ratschläge und setzte sie im Training um. Er war der Erste beim Training und der Letzte, der den Platz verließ. Er liebte es, mit dem Ball zu spielen. Ich dachte an Robinho im gleichen Alter zurück, und Neymar schien sogar noch begabter zu sein. Ich sagte zu seinem Vater: ‚Sie haben einen Sohn, aus dem einer der größten Fußballer werden könnte. Er wird mindestens so gut wie Robinho sein.‘“
Neymar Pai, der es selbst nie bis ganz oben geschafft hatte, nahm es ihm ab und hatte volles Vertrauen zu ihm – trotzdem achtete er natürlich ganz genau darauf, wie die Entwicklung seines Sohnes voranging. Betinho sagt: „Sowohl Mutter als auch Vater standen ihm sehr nah: Sie verfolgten stets, was er trieb. Sie behandelten ihn mit großer Zuneigung und Liebe. Selbst wenn es um die Finanzen der Familie nicht zum Besten bestellt war, taten sie für ihren Sohn immer, was sie konnten. Sie erzogen ihn dazu, ehrlich und aufrichtig zu sein – ein guter Junge eben.“
Aber wie war er, als er sechs Jahre alt war? „Er war ein glücklicher kleiner Junge, immer fröhlich, immer lächelnd. Er hatte eine nette Art an sich. Er war gut in der Schule, und er lernte gern. Mit Erwachsenen kam er ebenso gut aus wie mit seinen Mitschülern. Er war mit jedem befreundet und ein geborener Anführer.