Charles William Miller starb am 30. Juni 1953 im Alter von 79 Jahren. Er hatte erlebt, wie São Paulo zu einer Metropole heranwuchs und futebol, den er ein halbes Jahrhundert zuvor ins Land gebracht hatte, sich zu einer nationalen Leidenschaft entwickelte. Er war dabei, als Brasilien die Weltmeisterschaft 1950 ausrichtete, und durchlitt mit Millionen von Brasilianern eine der schmerzlichsten Stunden der brasilianischen Fußballgeschichte, als Brasilien im entscheidenden Spiel gegen Uruguay vor eigenem Publikum im Maracanã-Stadion den WM-Titel verspielte.
Charles Miller ist bis heute in Erinnerung geblieben. In der brasilianischen Fußballsprache bezeichnet der Begriff chaleira (eigentlich „Teekessel“, abgeleitet von „Charles“) den Trick, den Miller zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfand, bei dem der Ball hinter dem Standbein gestoßen wird, beim Schuss also die Beine überkreuzt werden. Genau ein Jahr nach seinem Tod wurde der Platz vor dem Estádio Municipal Paulo Machado de Carvalho (besser bekannt als „Pacaembu“, nach dem Viertel, in dem es sich befindet) nach ihm benannt. Heute ist das riesige Areal im Herzen von São Paulo, das in seiner Form an eine griechische Arena erinnert, auf der einen Seite von riesigen Wolkenkratzern und auf der anderen Seite vom Pacaembu begrenzt.
Das Pacaembu ist ein cremefarbener Jugendstilbau, der an einem Hang angelegt wurde. Das Stadion wurde am 27. April 1940 vom brasilianischen Präsidenten Gétulio Vargas, São Paulos Bürgermeister Prestes Maia und dem Architekten Ademar de Barros eingeweiht. Damals bot es 71.000 Zuschauern Platz. Heute hat es nach Umbauarbeiten im Jahr 2007 rund 40.000 Plätze. Die Heimspielstätte der Corinthians ist ein echtes Juwel und eines der beliebtesten Postkartenmotive der Stadt. Im Inneren, unter den vier Säulen am Haupteingang und der riesigen Uhr, befindet sich das Fußballmuseum mit 17 Räumen, das am 29. September 2008 eröffnet wurde. Ausgestellt werden Fotos, Videos, Aufnahmen berühmter Fußballer, Memorabilien, Souvenirs, seltene Artefakte und Statistiken. Die Ausstellung gleicht einer Reise durch den brasilianischen Fußball des 20. Jahrhunderts.
Hilário Franco Júnior, Professor für Geschichte des Mittelalters, hat ein viel beachtetes Buch geschrieben: A dança dos deuses: futebol, sociedade, cultura („Der Tanz der Götter: Fußball, Gesellschaft und Kultur“). Es beleuchtet die Geschichte des brasilianischen Fußballs aus vier Perspektiven:
„Am Anfang wurde der Fußball kritisiert, weil er für nutzlos erachtet wurde, aber es dauerte nicht lange, bis er sich vom Sport der Elite zum Spiel der Arbeiter entwickelte. In den dreißiger Jahren gab es dafür die ersten Anzeichen. Brasilien wurde sich einer Art gegenseitiger sozialer Befruchtung bewusst, wie sie von Intellektuellen wie Gilberto Freyre, Paulo Prado und Sérgio Buarque de Holanda beobachtet worden war. Mischlinge, Farbige und Weiße begannen, miteinander zu leben. Es gab keinen Grund mehr, sich zu schämen, und wenn Mischlinge Fußball spielen konnten, war das umso besser. Bei der WM 1938 war der Halbbrasilianer und Halbportugiese Leônidas da Silva bester Torschütze. Das war ein Weckruf für das Land. Ein Farbiger und ein Mischling spielten ebenfalls im Turnier, trotz der Proteste derer, die ihren Ausschluss gefordert hatten.
Der nächste entscheidende Einschnitt war das Maracanaço, als Brasilien 1950 im Kampf um den WM-Titel von Uruguay geschlagen wurde. Der Dramatiker Nelson Rodriguez bezeichnete diesen Moment als ‚psychologisches Hiroshima‘. Das war es tatsächlich. Es war ein Schlag für die Psyche der brasilianischen Gesellschaft und der politischen Klassen, die gehofft hatten, dass ihnen ein Turniersieg zum Erfolg bei den bevorstehenden Wahlen verhelfen würde. Es war eine nationale Krise, die erst 1958 endgültig überwunden wurde: Brasilien berappelte sich und gewann in Europa den WM-Titel. In Paris skandierten die Brasilianer: ‚Wir sind die Besten der Welt!‘ Der Nationalstolz explodierte geradezu.
Ab diesem Moment sehnten sich die Brasilianer danach, ihr nationales Minderwertigkeitsgefühl durch einen erneuten Titelgewinn zu überwinden, was ihnen 1962 und 1970 auch gelang. Aber es war ihnen nicht immer vergönnt. Es gab eine sportliche Dürre, dann die Militärdiktatur, Unterdrückung, Folter, politische Oppositionelle, die einfach verschwanden … Die Gesellschaft hoffte schweigend auf den Fußball. Zweifel schlichen sich ein, trotz einiger Erfolge.
Es ist ein Gefühl, das den brasilianischen Fußball bis heute durchzieht. Brasilien schätzt den Fußball, es bringt großartige Spieler hervor, aber es ist nicht mehr die Fußballgroßmacht, die es einmal war. Es gibt andere Großmächte im Weltfußball, und es gibt auch außerhalb Brasiliens großartige Spieler. Brasilien möchte das Brasilien der Zukunft sein, aber sobald es scheint, dass das Brasilien der Zukunft da ist, fangen die Probleme an. Brasilien bewegt sich eher im Zickzack als geradlinig voran. Es macht einen Schritt vor und zwei zurück. Im Fußball ist es nicht anders.“
Nach den Ausführungen des Professors, in denen er mittelalterliche Utopien dem Fußball in der Gesellschaft gegenüberstellt, wenden wir uns einer Begebenheit zu, die sich im Fußballmuseum des Pacaembu abspielte. Zwei Schulkinder warten darauf, eingelassen zu werden. Die lärmenden Schüler verlieren sich in den weitläufigen Räumen und Korridoren und halten kurz an einem interaktiven Exponat. Dort können sie Elfmeter schießen und ihre Schussgeschwindigkeit messen, auf einem Miniaturplatz kicken oder Tischfußball mit kleinen hölzernen Modellfiguren spielen. Am Museumseingang vermittelt ein großer Saal den Besuchern eine Ahnung davon, welche Bedeutung der Fußball in Brasilien hat, und zwar mit einer bunten Sammlung an Fahnen, Bannern, Postern, Wimpeln, Schlüsselanhängern, Schnickschnack, Karikaturen, Dokumenten, Mützen und Teppichen. All das ist eine Hommage an die Leidenschaft der Fans.
Eine Rolltreppe bringt die Besucher in den ersten Stock. Dort werden sie von Pelé in drei verschiedenen Sprachen begrüßt. Die Besucher werden anhand von Bildern eines Balls, der von einem kleinen Jungen getreten wird und von einem Feld zum nächsten hüpft, durch die Räume geführt. Barocke Engel fliegen hoch oben im Dunkeln. Lebensgroße Modelle von Fußballlegenden dribbeln, schießen und tänzeln durch die Luft. Auf einer Tafel steht: „Es sind 25, doch es könnten ebenso gut 50 oder 100 sein, denn sie waren die Väter des Fußballs, einer Kunstform, die in Brasilien gespielt wird. Götter und Helden, Idole vieler Generationen, die als Engel betrachtet werden können, deren Flügel oder vielmehr Füße uns an Orte führen, wo Kreativität, Poesie und Magie gedeihen. Sie sind wahre Engel barocker Kunst.“ Engel mit Namen wie Pelé, Sócrates, Gilmar, Carlos Alberto, Bebeto, Tostão, Garrincha, Ronaldo, Gérson, Rivelino, Didi, Vavá, Romario, Ronaldinho, Roberto Carlos, Rivaldo, Taffarel, Zico, Zagallo, Falcão, Nílton Santos, Djalma Santos, Jairzinho, Julinho Botelho, Zizinho.
Ein Junge namens Paulo, der mit seinen Klassenkameraden ins Museum kam, ist in ein Video über das Tor, das es nicht gab, vertieft, Pelé gegen den uruguayischen Torhüter Ladislao Mazurkiewicz im Halbfinale der WM 1970. Immer wieder und wieder schaut er sich das Video an. Dann liest er staunend und Name für Name die lange Liste barocker Engel. Er schaut zu den Bildern auf und fragt seinen Freund: „Warum ist Neymar nicht dabei?“
Neymar hat es noch nicht zu solcher fußballerischer Größe gebracht, aber draußen vor dem Stadion, unter der Wintersonne, verkaufen die Straßenhändler kein Trikot so häufig wie das goldgrüne mit der Nummer 10, das dem jüngsten Poeten des brasilianischen Fußballs gehört.
Kapitel 2
Prosa und Poesie
Gespräch mit José Miguel Wisnik, brasilianischer Musiker und Essayist
„Wer sind die besten Dribbler der Welt, und wer die besten Torjäger? Die Brasilianer. Es versteht sich von selbst, dass ihr Fußball reinste Poesie ist: Er kreist um Dribblings und Tore. Catenaccio und die Aufteilung des Raums in Dreiecke stellen die Prosa des Fußballs dar: Sie basieren auf Synthese, auf einem kollektiven und organisierten Spiel, also der überlegten Ausführung des Fußballcodes.“
In seinem 1971 verfassten Essay „Il calcio ,è‘ un linguaggio con i suoi poeti e prosatori“ („Mit seinen Poeten und Prosa-Autoren ist der Fußball eine Sprache“) verglich der Filmemacher, Autor und Fußballfan Pier Paolo Pasolini literarische Genres mit Spielweisen im Fußball. Dabei unterschied er zwischen Fußballpoesie und Fußballprosa. Auf dieser Unterscheidung