Seine Argumentation hat er in dem vor ein paar Jahren erschienenen Buch Veneno remédio: o futebol e o Brasil („Gegengift: Fußball und Brasilien“) dargelegt. Heute sinniert er darüber, was Neymar für die Geschichte des Fußballs in seinem Land bedeutet oder bedeuten könnte. Wisnik bezeichnet Neymar scherzhaft als den „Baudelaire des Fußballs“. Während er gemütlich in seinem Arbeitszimmer in São Paulo sitzt, geht er ein wenig in sich, bevor es aus ihm rausbricht:
„Der brasilianische Fußball brachte eine Tradition hervor, die auf der Ellipse basiert, eine Spielweise, die darauf angelegt ist, nichtlineare Möglichkeiten zu schaffen, Räume zu erobern und die Defensive zu durchbrechen. Meine Ideen basieren auf dem, was Pasolini über Fußballprosa und Fußballpoesie schrieb. Wir stimmen darin überein, dass Fußballprosa gradliniger ist, taktisch strenger, mannschaftlicher, defensiver. Sie beinhaltet Konterangriffe, eine Aufteilung des Raums in Dreiecke, Flankenwechsel und rationale Spielzüge. Die Idee der Fußballpoesie ist, aus dem Nichts heraus auf nichtlineare Weise neue Räume zu schaffen, wobei Dribblings der entscheidende Faktor sind. Sie dienen dazu, in gegnerische Räume vorzustoßen oder einfach spielerisch schön und effektiv zu sein. Sie können Mittel zum Zweck sein oder eine Möglichkeit, ein Tor zu erzielen. Mané Garrincha beispielsweise trieb das Dribbling auf die Spitze, war aber gleichzeitig sehr effektiv. In der Geschichte des brasilianischen Fußballs gab es ruhmreiche Momente, in denen Dribblings um ihrer selbst willen zelebriert wurden, aber gleichzeitig effektiv waren.
In den dreißiger Jahren, als Gilberto Freyre Brasilien aus soziologischer, anthropologischer und historischer Perspektive analysierte, wies er darauf hin, dass das Selbstverständnis des brasilianischen Fußballs eng verknüpft sei mit dem Selbstverständnis der Mischlinge. Die Brasilianer verwandelten die choreografierte, schematische Spielweise der Engländer in eine Art Tanz, indem sie elegante Beinarbeit, Capoeira und Sambaelemente vermengten. Das hatte zweifellos großen Einfluss darauf, wie unsere ganze Kultur heute wahrgenommen wird: die Vorstellung, dass Effizienz nur gewürdigt wird, wenn sie mit Freude einhergeht. Anders gesagt: Der ideale Zustand ist eine Zusammenführung von Arbeit und Feiern. In dieser Hinsicht ist der brasilianische Fußball sowohl das Gift als auch das Gegenmittel, denn er ist so wie Popmusik und Karneval eine Form kultureller Verwirklichung, aber er ist auch ein Problem, weil er der Vorstellung Vorschub leistet, unsere Kultur stelle Faulheit und Almosen über Leistungsfähigkeit.“
Können wir auf das Thema Fußball und Poesie zurückkommen und was das mit Neymar zu tun hat?
„Natürlich. Das war nur eine kleine Einführung. Also, die Brasilianer veränderten den englischen Fußball auf eine Weise, die Freyre als kurvenförmig und Pasolini als poetisch bezeichnete. Diese Spielweise wurde in Südamerika in den sechziger Jahren entwickelt und erreichte ihren Höhepunkt bei der WM 1970 in Mexiko. Damals bediente sich der brasilianische Fußball eines Repertoires an nichtlinearen Spielzügen, die sich als Ellipsen bezeichnen lassen, ein Konzept aus der Geometrie und auch der Rhetorik. Spielzüge, die auf Kurven gründen oder dem Einfrieren der Zeit. Bedenken Sie nur die verschiedenen Arten des Dribblings: links antäuschen, rechts antäuschen, Übersteiger, den Moment nutzen, um den Gegner in einer statischen Situation zu besiegen. Weiterhin der Doppelpass, der Heber, die folha seca („das trockene Blatt“), bei der sich der Ball genau im richtigen Moment senkt. Das war das klassische Repertoire des brasilianischen Fußballs zwischen 1962 und 1970. Ab 1970 passte sich der brasilianische Fußball jedoch an die neuen Gegebenheiten im internationalen Fußball an. Der war nun von körperlicher Fitness, Teamplay, variablen taktischen Formationen sowie der Spezialisierung der Angreifer und Verteidiger geprägt.
Bei den Weltmeisterschaften der siebziger, achtziger und neunziger Jahre probierten die Brasilianer verschiedene Lösungen aus. Die Poesie war irgendwie noch da, dank Spielern wie Zico, Sócrates und Falcão, die 1982 dabei waren, oder Romário, der 1994 in einer Nationalmannschaft, die einen eher prosaischen Stil pflegte, noch Ellipsen spielte. So ging es weiter bis zur Ankunft von Ronaldinho, einem fußballerischen Genie, der das gesamte Repertoire des brasilianischen Fußballs wieder zum Leben erweckte. Er beherrschte Didis folha seca, Pelés Heber und Garrinchas Dribblings. Ronaldinho war ein Künstler der Manieriertheiten, fast so, als zitiere er die berühmten Kunststücke anderer Spieler. Ronaldinho ist sich dessen sehr wohl bewusst, und so wie ein Autor andere Autoren zitiert, so zitiert er die Tore der Spieler vergangener Tage.“
Und jetzt kommen wir auf Neymar …
„Ja, jetzt kommt Neymar ins Spiel. In einer Zeit, in der keiner mehr an eine poetische Tradition glaubt, in der jeder meint, sie verschwinde aufgrund einer vermeintlichen Hinwendung zur Fußballprosa, selbst in Brasilien, taucht Neymar auf. Ein Spieler, der diese poetische Spielweise verkörpert und erhalten möchte.
Neymar hat ein beeindruckendes Dribbelrepertoire. Außergewöhnlich, würde ich sagen: ein Repertoire, dass mit seinem Erfindungsreichtum und seiner Frische erstaunt. Es ist reinster Ellipsenfußball. Falls Sie mir nicht glauben, schauen Sie sich seinen Hackentrick gegen Sevilla in einem der ersten Spiele der Saison 2013/14 in Spanien an: Das war etwas Unerwartetes, woran niemand sonst auch nur zu denken wagte.
Bei Santos galt Neymar bereits seit seinem 13. Lebensjahr als zukünftiger Champion. Er ist Teil einer Generation, die dazu trainiert und erzogen worden ist, etwas Besonderes zu sein. Viele Spieler haben es schwer, die Vorschusslorbeeren zu rechtfertigen. Neymar aber hat von Anfang an sämtliche Qualitäten nachgewiesen, die ihm zugeschrieben wurden. Neben seinen magischen Fähigkeiten am Ball besitzt er außerdem ein natürliches Charisma, ist ausgesprochen sympathisch und hat es geschafft, sich ein öffentliches Image zu basteln, genau wie ein Popstar. Die Mädchen und die ganze Öffentlichkeit liegen ihm zu Füßen. Zudem wird er von den Fans anderer Klubs und den großen Spielern der Gegenwart und Vergangenheit respektiert. In seiner Zeit bei Santos hat er mit seiner überschwänglichen Art und seinen Dribbelkünsten gezeigt, dass er die Tradition am Leben erhält.
Ja, Neymar ist ein Poet, ein Graffitikünstler: Er hat seine Sonette auf den Mauern in der ganzen Stadt hinterlassen. Seine Frisur, die Art, wie er den Kragen hochschlägt, und sein Torjubel sind alle Teil seiner poetischen Performance. Neymar ist eine Art moderner Volksheld, voller Energie und Leben, und ein absoluter Star unserer Zeit. Auf dem Feld hat er großartige Übersicht, er beherrscht den tödlichen Pass, und er hat überragende Fähigkeiten beim Torabschluss. Er kann mehr als nur dribbeln. Seine Beziehung zum Dribbling ist nicht nur rhetorischer Natur, so wie es bei Robinho der Fall war, der keine großen Torjägerqualitäten hatte und dessen Doppelpässe oft reine Aufschneiderei waren. Neymar hat einen technisch fortgeschrittenen Stil, komplex und dabei beängstigend effektiv. Effizient, ohne seinen Reiz für den Zuschauer einzubüßen. Sein Spiel ist auf einem anderen Level, vollkommen neuartig, und verleiht dem poetischen Fußball eine ganz neue Dimension.
Ich sehe ihn in einer interessanten Situation. Es ist viel darüber geredet worden, ob er sich an die Spielweise der Seleção [die brasilianische Nationalmannschaft] anpassen kann; beim Confederations Cup hat er das unter Beweis gestellt. La Canarinha [ein anderer Spitzname der Nationalelf] hat einen Stil gefunden, der Neymars Potenzial voll ausschöpft. Die große Frage ist, wie er sich weiterhin bei Barcelona einfügt. Santos konnte ihn bis 2013 halten. Dass ein Spieler auf dem Höhepunkt seiner Leistungsfähigkeit nicht sofort an einen europäischen Klub verkauft wurde, war sehr wichtig für das brasilianische Selbstwertgefühl. Ehrlich gesagt, war er bei Santos weitgehend auf sich allein gestellt, und ich habe gehofft, er würde nach Barcelona gehen, um im internationalen Fußball heranzureifen.“
Passen Neymars Poesie und Barcelonas Prosa zusammen?
„Barcelonas Fußball ist nicht prosaisch, sondern eher eine totale Mutation. Auf der einen Seite sind da Elemente der holländischen Spielweise mit Verengung und Erweiterung der Räume, auf der anderen Seite südamerikanische Merkmale wie das Tiki-Taka-Kurzpassspiel. Man könnte es als in Prosa verfassten Fußball bezeichnen, extrem beweglich, aber nicht übermäßig strukturiert. Messi und seine Dribblings, mit denen er die Defensive durchstoßen kann, lassen keinen Zweifel am beherrschenden südamerikanischen Element von Barcelonas Spielweise. Ich glaube, dass Barcelona in seinen größten Momenten die Quadratur des Kreises gelungen ist, nämlich