Als Neymar Pai wieder mit Frau und Sohn vereint war, ging es Nadine gut, abgesehen von ein paar Kratzern. Juninho hatte einen dicken Verband um den Kopf – das Blut war aus einer kleinen Schnittwunde gekommen, die ihm von einer Scherbe beigebracht worden war. Neymar Pai hatte weniger Glück: Das ausgerenkte Becken war eine ernsthafte Verletzung. Er musste sich einer Notoperation unterziehen und verbrachte zehn Tage im Krankenhaus und dann vier Monate zu Hause im Bett, eingehängt in eine Maschine. Fast ein Jahr lang konnte er nicht spielen und musste zahllose Behandlungen, Rehamaßnahmen und Physiotherapie über sich ergehen lassen. Unterstützt wurde er dabei von Atilio Suarti und Uniãos Masseur Antonio Guazzelli. Es war ein schwerer Unfall, der Folgen für seine Karriere hatte. Neymar Pai fand danach nie mehr zu alter Form zurück. Trotzdem hörte er nicht auf zu spielen. Der Fußball war sein Leben, seine Existenz.
Am 31. Mai 1995 streifte er das berühmte rote Trikot von União Mogi für ein Freundschaftsspiel über. Das Match wurde anlässlich der Neueröffnung des Nogueirão ausgetragen. Der Gegner war Santos Futebol Clube, der in der Divisão Especial spielte, der heutigen Liga A1, während Mogi in der Intermediaria, der heutigen Liga A2, zu Hause war.* Bei Santos spielten bekannte Namen wie Toninho Cerezo und Jamelli. Mogi wurde von Valdir Peres trainiert und wartete mit Spielern wie Torwart Haroldo Lamounier und Ricardo auf.
In der Partie trafen Edson Cholbi Nascimento, genannt Edinho, der Sohn von Pelé, und Neymar da Silva Santos, der Vater des späteren Neymar Jr., aufeinander. Auf der einen Seite ein Junge, der den Rat seines Vaters beherzigt hatte, wie man sich im Leben zu betragen hat; auf der anderen Seite ein Vater, der seinem Sohn wertvolle Tipps geben sollte (und es bis heute tut), wie man ein großer Fußballer wird und die richtigen Karriereentscheidungen trifft. Für den 25-jährigen Edinho, der bei Santos im Tor stand, war es ein Spiel wie jedes andere. Neymar Pai aber war 30 und wird sich an dieses Spiel für immer erinnern, denn es war ein Match gegen das berühmte Santos, und er war für die Freistöße zuständig. Doch Edinho parierte seine verpfuschten Versuche mühelos. Ein Jammer. Mogi wollte unbedingt gewinnen, aber gegen derart ausgebuffte Profis hatten sie keine Chance. Das Spiele endete mit einem 1:1-Unentschieden. Die Tore erzielten Jamelli für Santos und Gilson da Silva für Mogi. Immerhin ein gutes Resultat. Die Neueröffnung verlief ganz nach Plan.
Ein Jahr später, am 11. März 1996, begrüßte die Familie da Silva Santos ein weiteres Mitglied: Tochter Rafaela kam auf die Welt. Nach vielen glücklichen Jahren als Spieler bei União beschloss Neymar dann, sich in ein neues Abenteuer zu stürzen. Er kehrte ins Haus seiner Eltern im Viertel Nautica 3 in São Vicente zurück und sah sich nach einer neuen Anstellung um. Diesmal verschlug es ihn zu Operário aus Várzea Grande im Bundesstaat Mato Grosso.
Der Vorsitzende des Klubs, Maninho de Barros, suchte nach einer Verstärkung für seine Mannschaft und hatte Neymar Pai für Batel de Paraná spielen sehen. Er kannte den Namen des Spielers nicht, der eine so tolle Leistung gezeigt und sogar ein Tor erzielt hatte. Zur Halbzeit fragte er Laurinho, einen Stürmer von Batel, wer der Spieler sei, und nach dem Match traf er sich mit Neymar Pai und schlug ihm einen Wechsel zu Várzea Grande vor.
Neymar erbat sich Bedenkzeit – er wollte die Sache mit seiner Familie besprechen. Erst nach einem Gespräch mit einem der Geschäftsführer von Operário, der ihm versicherte, dass er seine Familie mitnehmen könnte, nahm Neymar Pai das Angebot an. Von da an trug er das dreifarbige Trikot von Várzea Grande.
Sein erstes Spiel war das Halbfinale der Staatsmeisterschaft von Mato Grosso, und er erfüllte die in ihn gesetzten Hoffnungen sofort: Beim 4:1 gegen Cacerense erzielte Neymar ein Tor selbst und bereitete ein weiteres vor. Im Finale traf Operário auf União Rondonópolis. Neymar verpasste das Hinspiel, das auswärts stattfand und unentschieden endete. Im Rückspiel am 3. August 1997 war Neymar Pai dabei, und das Match endete mit einem 2:1-Sieg.
Für Operário war es bereits die zwölfte Staatsmeisterschaft, für Neymar da Silva Santos hingegen der einzige Meistertitel seiner Karriere, die er 1997 im reifen Alter von 32 Jahren beendete. Er fühlte sich alt: Seit dem Unfall machte sein Körper nicht mehr richtig mit, und beim Training und während der Spiele litt er unter Schmerzen. Auch die vielen Wechsel belasteten ihn und seine Familie. Die Verträge waren inzwischen weniger lukrativ, und er hatte keine Hoffnung, in seinem Beruf noch mehr zu erreichen. Er kehrte heim, um ein neues Leben zu beginnen, das viele Überraschungen bereithalten sollte.
Die Staatsmeisterschaft von São Paulo, der Campeonato Paulista, wird heute in vier Ligen ausgetragen: der Primera Divisão A1, A2, A3 und der Segunda Divisão. Je 20 Klubs spielen in den Ligen A1, A2 und A3. Etwa 48 Klubs (die Zahl schwankt leicht von Jahr zu Jahr) beteiligen sich in der Segunda Divisão.
Kapitel 4
São Vicente
Die Kindheit
Pokale, Trophäen, Medaillen jeglicher Art, Form und Größe aus verschiedenen Sportarten: Die Vitrine des Clube de Regatas Tumiaru ist voller Erinnerungsstücke an vergangene Triumphe der langen Vereinsgeschichte, die 1905 ihren Anfang nahm. Alles begann mit dem Ziel, „junge Menschen durch Sport und insbesondere den Wassersport zusammenzubringen“. Das ursprüngliche Klubgelände befand sich in São Vicente, direkt am Wasser, neben dem historischen Hafen von Tumiaru, dem der Klub seinen Namen verdankt. Heute befindet sich das Klubhaus in der Nummer 167 des Platzes, der von den Einheimischen „Postamtsplatz“ genannt wird, offiziell aber Praça Coronel Lopes heißt. Auf der Fassade des schwarz-weißen, zweistöckigen Gebäudes prangt das Klubwappen: zwei gekreuzte Ruder, ein Rettungsring sowie das Datum 1905. Wir befinden uns im Zentrum von São Vicente, der ersten Stadt, die von den Portugiesen in Südamerika gegründet wurde, am 22. Januar 1532.
São Vicente befindet sich sowohl auf dem Festland als auch im Westen der gleichnamigen Insel, die sie sich mit der Hafenstadt Santos teilt. São Vicente ist für Handel und Tourismus bekannt und zieht Horden von Besuchern an. Sehenswert ist das Monument zur 500-Jahr-Feier Brasiliens, das vom Architekten Oscar Niemeyer entworfen wurde: eine weiße Plattform auf der Ilha Porchat, von der aus man einen atemberaubenden Blick über die Bucht hat. Das sollte man sich nicht entgehen lassen.
Auch die geführte Tour durch den Clube Tumiaru lohnt sich – also die Anlage in der Innenstadt, nicht die am Hafen. Dem Klub gehören ein Freibad, Trainingsräume, eine Turnhalle für Capoeira, Tanz, Tai-Chi, Judo und Turnen und eine Futsal-Halle. Die Halle ist riesig, mit halbrundem Gewölbe, großen Fenstern, die den Saal erhellen, Tribünen an den Seiten und einem hölzernen Parkettboden, der schon bessere Zeiten gesehen hat. Die Halle ist leer, denn es ist noch früh am Morgen. Das Training findet am Nachmittag statt. Hier auf diesem Platz hat Neymar Jr. im Alter von sechs Jahren für seinen ersten Klub gespielt. A bola, der Ball, war schon immer seine große Liebe, sein Objekt der Begierde. Seine unstillbare Leidenschaft für den Ball ist so stark, dass er im Mai 2012 erklärte: „A bola ist wie die eifersüchtigste Frau der Welt. Wenn du sie nicht gut behandelst, wird sie dich nicht lieben, und sie kann dir sogar wehtun. Ich liebe sie über alles.“
Schon als kleiner Junge hat er diese Leidenschaft unentwegt zum Ausdruck gebracht. Seine Mutter Nadine erinnert sich, wie sie einmal zum Kartoffelnkaufen auf den Markt ging. Ihr Sprössling war damals erst zwei Jahre alt und riskierte Kopf und Kragen, als er hinter einem kleinen Plastikball her auf die Straße lief. Wie Neymar selbst erzählt auch Nadine, dass er immer einen Ball mit ins Bett genommen hat. Nach wenigen Jahren hatte Neymar sage und schreibe 54 Bälle in seinem Zimmer angesammelt. Das Zimmer gehörte eher den Bällen als Neymar. Es lagen so viele Bälle herum, dass Neymar sich in eine Ecke des Bettes kauern musste. Auch auf den Kinderfotos ist a bola zu sehen. Auf einem der Bilder, auf dem er noch ganz klein ist, trägt er ein Santos-Trikot und unterm Arm einen schwarz-weißen Lederball.
Neymar Pai staunte, als Juninho sich mit gerade drei Jahren den Ball nicht einfach schnappte und „meiner!“ rief, sondern ihn stattdessen mit dem Fuß zurückspielte. Fußball war etwas Besonderes für den Kleinen, er nahm ihn ernst. Er hatte das, was die Brasilianer jeto nennen: Begabung, Talent. Im Haus seiner Großeltern im Bairro Nautica 3 schliefen