Kapitel 6
100 Prozent Jesus
Gespräch mit Newton Glória Lobato Filho, Priester in São Vicente
Der Gottesdienst ist vorüber. Der Priester, Newton Glória Lobato Filho, verabschiedet sich von der Gemeinde. Er erkundigt sich nach dem Befinden eines Angehörigen, schüttelt Hände, umarmt einen kleinen Jungen und spricht mit anderen ein kurzes Gebet. Die Sonntagsmesse in der Igreja Batista Peniel, einem riesigen, himmelblauen Lagerhaus in der Avenida Martins Fontes 781 in São Vicente, war intensiv und emotional. Ein richtiges Spektakel, das um die drei Stunden dauerte. Auf der Bühne, hinter einem Pult aus Plexiglas, auf dem „Jesus“ steht, hat Newton Glória alle Register der Redekunst gezogen: von der Schimpftirade bis zur witzigen Bemerkung, vom Falsett bis zum Bariton, vom lauten Geschrei bis zum gedämpften Flüsterton.
Zunächst bat er die Gemeinde, gemäß den ausgelegten Broschüren an den Feierlichkeiten zum 37-jährigen Bestehen des Ministerio Peniel teilzunehmen. Dann, nachdem er aus der Bibel, aus dem 1. Buch Samuel 24, 25, gelesen hatte, begann er seine Predigt: einen Sermon, in dem er einen Satz wieder und wieder skandierte: „Gott wird heute Abend zu dir kommen. Bereite deine Seele auf diesen Besuch vor.“ Die stehende Gemeinde fiel mit erhobenen Händen wie in Trance ein. Die Scheinwerfer strahlten auf die Bühne herab und beleuchteten ein schlichtes weißes Kreuz, zwei riesige Monitore an den Seiten und ein großes blau-rot-gelbes Banner:
Ministerio Peniel Face a Face com Deus 37 anos restaurando vidas
(„Pfarramt Peniel, von Angesicht zu Angesicht mit Gott,
37 Jahre erneuertes Leben“)
Die Predigt wurde von drei Fernsehkameras aufgezeichnet und soll als DVD veröffentlicht werden. Es gab viel Musik, mit elektrischen Gitarren, Keyboards und Schlagzeug. Das Lied hieß „Abraça-me“ („Halte mich“), ein religiöser Gospel von André Valadão. Es wurde von der Gemeinde gesungen, wobei der Refrain – „Halte mich, heile mich, salbe mich, berühre mich“ – etliche Male wiederholt wurde. Mit seiner eingängigen Melodie geht einem das Lied sofort ins Ohr, und man wird es nicht so schnell wieder los.
Die Gemeindemitglieder traten vor die Bühne, und die rund 2.000 Gläubigen erhielten die heilige Kommunion: Wein aus Plastikbechern, dazu ein Stückchen Toastbrot. Dann war der Gottesdienst fast vorbei, zuvor wurden der Gemeinde aber noch ein neugeborenes Kind und ein frischvermähltes Paar präsentiert. Bevor die Gemeinde schließlich entlassen wurde, wurden auf der Bühne und an den Seiten gelbe Umschläge emporgehalten. Diese waren für die Kollekte der „Spenden an Gott“ bestimmt, für die jedes Mitglied der Gemeinde das gibt, was es eben erübrigen kann. Die Umschläge werden außerdem dazu verwendet, den „Zehnten“ einzusammeln. Laut Levitikus 27, 30-32 ist der Zehnte das Opfer an die Kirche, ein Zehntel der Früchte des Feldes und des Viehs. Heutzutage ist mit dem Zehnten eher ein Zehntel des Einkommens der Gläubigen gemeint.
Nachdem sich das Lagerhaus um 21:30 Uhr so gut wie geleert hat, öffnet Newton die Bühnentür und zieht sich in sein Büro zurück. An der Wand hinter seinem Schreibtisch hängt ein gerahmter Zeitungsausschnitt: Es zeigt Neymar im Trikot des FC Santos. An der Seite seines Sohns, der ihn bei der Gemeindearbeit unterstützt, erzählt der Priester mit ruhiger Stimme über den Ministerio Peniel und seinen berühmten Jünger. Er erklärt, dass es in Baixada Santista und der Küstenregion insgesamt 58 Kirchen mit mehr als 12.000 Mitgliedern gebe. Die meisten von ihnen, rund 70 Prozent, sind junge Männer und Frauen aller Hautfarben. Es sind Schüler, Studenten und Arbeiter. „Aber manche von ihnen kommen aus schwierigen Verhältnissen. Sie wuchsen ohne Familie auf. Sie hatten Drogenprobleme und mit Prostitution zu tun. In unserer Kirche erhalten sie Beistand, eine neue Familie, eine Identität, Gemeinschaft und das Wort Gottes, das ihren Schmerz lindern kann. Viele von ihnen kommen als kleine Kinder hierher, so wie Juninho. Manche von ihnen heiraten bei uns, lassen ihre Kinder hier taufen und sind jetzt treue Anhänger der Kirche“, erzählt der Priester.
Lassen Sie uns über Neymar Jr. sprechen.
„Er kam in unsere Kirche, als er acht Jahre alt war. Er lebte in Praia Grande. Das erste Mal kam er mit seinem Vater und dann mit seiner Mutter, seiner Schwester und Freunden. Er wurde in unserer Kirche getauft, als er 15 war, am ersten Sonntag im Dezember 2007, am Strand von Gonzaguinha in São Vicente. [Zu diesen Feierlichkeiten, bei denen die Taufe im Meer vollzogen wird, kommen jedes Jahr rund 10.000 Jünger.]“
Warum trug er das Stirnband, als er ein Kind war?
„Es ist ein Zeichen des Glaubens, eine Art, seinem Schöpfer zu huldigen.“
Was hatte es mit dem „100 Prozent Jesus“-Stirnband auf sich, das Neymar 2012 während der Feiern zur dritten Paulistão-Meisterschaft in Folge trug?
„Ich war damals bei ihm. Es ist seine Art, Jesus zu danken.“
Was ist Juninho für ein Mensch in spiritueller und menschlicher Hinsicht?
„Er ist eine sehr freundliche Person. Sehr menschlich. Er sagt immer hallo und umarmt die anderen Gläubigen. Er nimmt sich Zeit für behinderte Kinder. Er spricht mit ihnen, schreibt Autogramme und lässt sich mit ihnen fotografieren. In spiritueller Hinsicht ist zu sagen, dass er trotz aller Verpflichtungen und Probleme, die er vielleicht hatte, stets zur Donnerstagsmesse kam, solange er für Santos spielte. Er saß in der letzten Reihe und lauschte der Predigt und den Lobliedern an den Herrn. Das offenbart seinen Glauben an Gott und seine Spiritualität.“
Hat er jemals vor der Gemeinde gesprochen, so wie es heute Abend manche getan haben?
„Nein. Das hat er nie getan. Ich habe ihn einmal gefragt: ‚Wie kommt es, dass du im Fernsehen zu sehen bist und singst und tanzt oder bei einem Konzert auf die Bühne gehst, aber hier bist du zu schüchtern, um vor den anderen zu sprechen?‘ Aber er wollte es trotzdem nicht tun.“
Inwieweit hat ihm die Religion geholfen?
„Ich glaube, dass sämtliche Stationen seines Lebens eng mit seinem Glauben verknüpft sind. Während aller Herausforderungen, denen er sich stellen musste, habe ich mit ihm gebetet und hat die Gemeinde für ihn gebetet. Bei jedem Schritt, den er machte, jeder Stufe, die er nahm – als er seinen ersten Profivertrag unterschrieb, als er sein erstes Spiel für Santos machte und sein erstes für die Nationalmannschaft –, haben wir für ihn gebetet. Die Gebete und das Wort Gottes waren spirituelle Begleiter in seinem Leben und haben ihm geholfen, dorthin zu kommen, wo er heute ist. Er hätte wegen all des Ruhms und des Geldes vom rechten Weg abkommen können, aber das ist nicht geschehen. Die Werte der Kirche und der Familie sind an ihn weitergegeben und von ihm verinnerlicht worden.“
Welche Werte hat Ihre Kirche ihm vermittelt?
„Gott zu ehren, deine Familie, deine Freunde und deinen Nachbarn zu lieben und zu respektieren. Das sind die Werte, die wir unseren Anhängern zu vermitteln versuchen.“
Aber wie passt sein Glauben an Gott zu den langen Nächten in den Klubs und seinen Beziehungen außerhalb der Ehe?
„Das ist schwierig, aber das gilt nicht nur für Neymar. Es ist das Gleiche mit anderen jungen Anhängern unseres Glaubens, die nicht so reich und berühmt sind wie er. Es ist eine Sache des Alters: Es gibt keine Hemmungen. Ich bete dafür, dass die Menschen keinen Sex vor der Ehe haben, aber man muss verständnisvoll und tolerant sein. Wir müssen unsere Arme und unsere Herzen für die Gemeinde öffnen. Wir dürfen die Tür vor niemandem verschließen.“
Was haben Sie gedacht, als Neymar mit 19 Vater wurde?
„Ich sprach mit seinem Vater, seiner Mutter und mit ihm selbst. Ich sagte ihm, dass er sein Kind lieben und ihm helfen müsse, denn es ist sein Sohn und ein Geschöpf Gottes. In einem so schweren Moment für einen jungen