Von Flusshexen und Meerjungfrauen. Jennifer Estep. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jennifer Estep
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959915564
Скачать книгу
aufgeben. Die Erinnerung ist alles, was mir von ihnen geblieben ist.« Du kannst mich verstehen, auch wenn ich an Land nicht sprechen kann.

      »Das verlange ich nicht. Ich werde mit dir kommen. Wenn du mich willst.«

       Seine Augen werden heller strahlen als die Sonne.

      Ich blinzele. Und ich verstehe.

      Das Opfer, das er zu geben bereit ist. Für mich. Für uns.

      Lass uns gehen, flüstern die Stimmen in meinem Herzen. Lass uns frei, du brauchst uns nicht mehr zu beschützen.

      Meine Hand greift nach der seinen und gleichzeitig kann ich endlich loslassen. Sein Lächeln lässt meine Augen überfließen, und während sein Mund meine Lippen berührt, spüre ich, wie sich die Teile meines Herzens wieder zusammenfügen.

      Und ich Frieden finde.

      Der Kelpie und die Meuterbraut

      Mira Valentin

       Mira Valentin

      Als ich Mira Valentin zum ersten Mal getroffen habe, sah sie aus wie Daenerys Targaryen aus Game of Thrones. Danach habe ich schnell gelernt, dass ihre Cosplay-Kostüme so wandlungsfähig sind wie ihre Buchwelten.

      Sie schreibt unter anderem Urban Fantasy (Das Geheimnis der Talente), High Fantasy (Die Lichtsplitter-Saga; gemeinsam mit Erik Kellen; ausgezeichnet mit dem SERAPH 2020) und historische Phantastik (Nordblut). Für ihren Jugendroman Der Mitreiser und die Überfliegerin wurde sie 2017 mit dem begehrten Kindle Storyteller Award ausgezeichnet. Ihre Enyador-Saga wurde bereits ins Koreanische übersetzt. Als ich sie fragte, ob sie eine Kurzgeschichte zu dieser Anthologie beisteuern wolle, schien gerade die Nachmittagssonne auf uns, denn wir verbrachten mit vier weiteren Autor*innen einen gemeinsamen Schreiburlaub auf Mallorca.

      Ihre Geschichte hingegen spielt nicht in der Sommerhitze, sondern in einer frostigen Nacht. Eine wichtige Rolle spielt ein Kelpie, ein keltisches Wasserpferd. Mira ist nämlich nicht nur ein Buch-, sondern auch ein Pferdemensch. »Ich habe bis vor fünf Jahren mein Geld damit verdient, Fachartikel über Pferde zu verfassen«, hat sie mir bei unserer Korrespondenz zu dieser Anthologie verraten. Kelpies findet sie schon lange faszinierend. »Das Thema der Anthologie kam mir gerade recht, um mich auf Recherchereise zu den Wasserpferden zu begeben. Und jetzt finde ich sie noch spannender als zuvor.«

       www.miravalentin.de

       Der Kelpie und die Meuterbraut

      Er wartet auf mich.

      Nur ein paar Meilen, dann werde ich bei ihm sein. Das sage ich mir immer wieder, während ich mich durch das Unterholz des Waldes kämpfe. Vorsichtig setze ich einen Fuß vor den anderen, um keine Zweige zum Knacken oder Laub zum Rascheln zu bringen. In diesen Wäldern treiben Räuber ihr Unwesen, die ganz bestimmt ihre Freude an einer Meuterbraut wie mir hätten. Ich habe mich gegen meinen Lehnsherrn gestellt und ihm das Recht der ersten Nacht verweigert. Jede Jungfrau, die einen Mann ehelichen will, muss sich in der Nacht vor ihrer Hochzeit zuerst ihrem Herrn hingeben, so schreibt es das Gesetz unseres Landes vor. Es gibt nur eine Möglichkeit, diese Vorschrift zu umgehen – eine, die keine andere Braut vor mir gewählt und überlebt hat: den Pfad des Schreckens. Auf ihm wandle ich nun, mit weißen Schuhen und in meinem Hochzeitskleid, genau wie mein Herr es verfügt hat. Ich sehe noch das herablassende Grinsen in seinem feisten Gesicht, während er seine Entscheidung verkündete. Niemand glaubt daran, dass ich lebendig mein Ziel erreiche. Ein Wald, ein See und ein Berg liegen zwischen mir und meinem Liebsten. Und so kämpfe ich mich voran, in der Hoffnung, lebendig über den See zu kommen und nicht stattdessen ihm zum Opfer zu fallen. Ihm, dem tödlichsten aller Schrecken, der arglosen Wanderern auflauert, um sie zu umgarnen, ihren Geist zu verwirren und sie schließlich unter Wasser zu ziehen: dem Kelpie!

      Niemand Lebendiges kann von ihm erzählen, denn jedes Auge, das ihn sah, schloss sich für immer. Jede Zunge, die zu ihm sprach, wurde gelähmt und jedes Ohr, das ihn hörte, ist nun taub. Es gibt lediglich Mythen und Legenden, die sich um dieses Monster ranken, doch an eine davon klammere ich mich wie eine Ertrinkende an ein Stück Treibgut: Um einen Kelpie zu zähmen, so heißt es, müsse man ihm einen Brautschleier über den Kopf werfen.

      So wie ein Ritter die Hand auf den Knauf seines Schwertes legt, um sich zu vergewissern, dass es noch da ist, greife ich nach dem durchsichtigen Stück Stoff an meinem Hinterkopf, das mir Klinge und Schild zugleich sein wird – die einzige Waffe, die ich habe. Dann nehme ich einen tiefen Atemzug und schreite weiter voran. Ich sehe die Baumkronen schon lichter werden, die ersten Sterne dringen durch ihre Zweige. Bald habe ich den Wald hinter mich gebracht! Ich kann den See bereits riechen, da bricht auf einmal ein Ast in dem Fichtendickicht neben mir. Ich fahre zusammen. Alle meine Muskeln angespannt, bleibe ich stehen und lausche. Da! Ein weiteres Knacken. Mit kalten Fingern nehme ich den Brautschleier ab.

      Schritte kommen auf mich zu, leise und doch so präsent, wie es nur bei einem großen, schweren Mann der Fall ist. Ich sollte weglaufen, doch noch ehe ich diesen Gedanken in die Tat umsetzen kann, tut sich das Buschwerk zu meiner Rechten auf und lässt eine Gestalt hindurch.

      Es ist tatsächlich ein fremder Mann, doch er sieht ganz anders aus, als ich vermutet hatte: nur wenig größer als ich selbst, aber von massiger, gedrungener Gestalt. Sein Gesicht verschwindet hinter einem struppigen Bart. Langes schwarzes Haar fällt ihm in ungepflegten Locken in die Stirn. Weder sein Alter noch seine Gesinnung kann man durch diese übermäßige Behaarung erkennen. Selbst seine Arme sind von einem flaumigen Fell bedeckt. Sollte das der sagenumwobene Verführer sein, dem ich mich stellen muss? Oder ist er einfach nur ein Räuber, der sich zu weit ins Niemandsland vorgewagt hat?

      Es ist schließlich seine Stimme, die ihn verrät – tief wie ein Ozean und sanft wie die Berührung einer Gischtflocke. Ja, dieser Mann muss ein Kind des Wassers sein, ein Flussgeist, ein Kelpie in seiner Menschengestalt!

      »Ich grüße dich, Meuterbraut! Schon lange hat es keine mehr gewagt, diesen Pfad zu beschreiten.«

      »Ich aber wage es«, sage ich entschlossen.

      Da lacht er, laut und tosend wie eine Sturmflut. Seine buschigen Augenbrauen tanzen amüsiert nach oben, während er noch weiter auf mich zukommt. »Was macht dich so sicher, dass gerade du den See bezwingen kannst? Dürres, schwaches Geschöpf, das du bist!«

      »Ich nehme es lieber mit dir auf als mit meinem Lehnsherrn! Nicht weit entfernt von hier, auf dem Gipfel des nächsten Berges, wartet mein Bräutigam auf mich.«

      Während ich rede, behält er meinen Schleier ganz genau im Auge. Also stimmt es wohl, dass man einen Kelpie auf diese Weise unterwerfen kann. Ich umklammere den Stoff fester.

      »Soso, dein Bräutigam«, murmelt er. »Denkst du, er würde dasselbe für dich tun?«

      »So wie ich für ihn ins Wasser gehen werde, würde er für mich durchs Feuer gehen«, stelle ich klar.

      »Ich hatte auch einmal jemanden, der für mich ins Wasser gegangen ist.« Es ist nur ein Flüstern, doch darin liegt das Leid einer ganzen Welt.

      Ich staune über diese Worte. Sagt er das, um mich zu überlisten? Kelpies sind tückische Wesen, die einem Menschen den Kopf verdrehen und seine Gedanken zum Schmelzen bringen, bis nur noch ein verworrener Klumpen voller Sehnsucht übrig ist. Und dennoch kann ich mich der Faszination nicht entziehen, die dieser eine, so voller Schmerz gesprochene Satz in mir auslöst. »Was ist geschehen?«, frage ich.

      Der Kelpie umrundet mich, wobei er stets genügend Sicherheitsabstand zu mir und meinem Brautschleier hält. »Sie ging