Von Flusshexen und Meerjungfrauen. Jennifer Estep. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Jennifer Estep
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783959915564
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nach, wir wären wunderschön und das Licht des Mondes würde uns unwiderstehlich machen. Langsam steigt der Reiter ab und kommt auf dich zu.

      So ist es richtig, rede ich mir zu, während mein Herz »Bleib stehen« rufen möchte.

      Ein Windhauch entblößt die nackte Brust unter deinen langen Haaren und ich sehe, wie sein Blick über dich gleitet, um doch sogleich – als würde er einen Traum abschütteln – aufs Meer hinauszuwandern.

      Und den meinen wiederfindet.

      Von der Intensität dieser Verbindung erschrocken, tauche ich ab und fliehe erneut in die sicheren Tiefen des Meeresschoßes hinab. Meine Gedanken verwirrt und verknäult wie verkrustetes Seegras.

      All die Nächte habe ich ihn herbeigerufen. Für sie! Er gehört ihr!, versuche ich mich zu überzeugen.

       Auch wenn ich weiß, dass dem nicht so ist.

      Nach einer durchwachten Nacht findest du – meine über alles geliebte Schwester – dich endlich wieder bei uns ein. Mit glänzenden Augen und einer zarten Färbung auf der Haut, die selbst unserem Vater nicht verborgen bleibt. Doch nicht der Kandidat der heutigen Brautschau erfreut dich. Ich weiß es besser.

      Und dieses Wissen fühlt sich an, als würden scharfkantige Muschelschalen in meiner Haut stecken.

      Als du nicht erscheinst, obwohl der Besuch seine Aufwartung macht, tobt Vater. Und auch wenn er es sich nicht eingestehen möchte – er hat dies schon einmal erlebt. Den fieberhaften Ausdruck, das sanfte Strahlen, das einem inneren Leuchten gleich von dir ausgeht – all das ist nicht unbekannt, denn es verfolgt ihn jede Nacht in seinen Träumen.

      Tu etwas!, fleht er mich wortlos an, nachdem er den Besuch auf den nächsten Tag vertröstet hat.

      Doch alles Zureden ist sinnlos. Und das weiß er genauso wie ich.

      »Er ist es«, flüsterst du plötzlich neben mir, und das Leuchten, das inzwischen deinen ganzen Körper zum Strahlen bringt, lässt mich verstummen.

      »Du hast es mir so oft versprochen, Schwester. Freust du dich nicht mit mir? Er ist es! Seinetwegen lebe ich noch!«

      Er, der Retter, der dich in endlosen Nächten am Leben erhalten hat, wenn die einzige Heilung die Hoffnung war.

      Und ich nicke. Er gehört wirklich dir, denn du hast ihn mit aller Kraft deines Herzens herbeigesehnt.

      In dieser Nacht folge ich dir an die Wasseroberfläche. Du bist schon dort und wartest. Doch auch er findet sich schnell ein. Gemeinsam sitzt ihr auf dem Felsen, blickt euch ohne Worte an.

      Ich sollte glücklich sein, doch ich kann es nicht.

      Bis sein Blick suchend über das Meer streift. Und ich den Funken in seinen Augen schlagen sehe.

      Ich fange ihn auf.

      Und schüttle den Kopf, bevor ich abtauche.

      Die Nacht fließt so träge dahin wie ein versickernder Strom. Ich höre ihn nach mir rufen. Und egal wie sehr ich mein Herz verschließe – seine Stimme verfolgt mich. Sie übertönt dein schwesterliches Geplapper nach deiner Rückkehr, als du mich kichernd in eine Felsenspalte ziehst, um mich an deinem Glück teilhaben zu lassen. »Wir werden fortgehen«, vertraust du mir an. »Sein Schiff muss auslaufen und ich werde ihn begleiten. Er weiß noch nichts davon, aber ich bin mir sicher, dass er sich wünscht, dass ich mit ihm gehe.«

      Mein Blick rutscht zu ihrem Fischschwanz und sie lächelt verschwörerisch. »Heute Nacht werde ich meine Schuppen verlieren. Ich bin hier, um dir Lebewohl zu sagen.«

      Entsetzen greift nach meinem Herz. »Du glaubst den Geschichten über die Meerhexe? Du weißt doch, was Vater gesagt hat!«

       Ich werde jede Hexe vom Grund des Meeres verbannen und töten!

      »Ich weiß, was Mutter gesagt hat!«, beharrst du und wischst meinen Einwand fort.

       Einfach so, als wäre es nichts, dein Leben zu opfern.

      »Wie kannst du das noch wissen? Du warst so klein damals, als sie …« Fortging, hallt es in meinen Gedanken nach.

      »Ich verstehe sie jetzt«, versicherst du. Und wir beide wissen, dass nur der Gedanke an ihn dich so lange hat leben lassen. Hilflos blicke ich dir hinterher, als du trunken vor Glück davonschwimmst. Ich sollte dich aufhalten, doch ich kann mich nicht bewegen.

      Aus den Tiefen der Erinnerung taucht das Gesicht meiner Mutter auf.

      »Geh nicht!«, habe ich sie angefleht. Doch sie hat nur traurig gelächelt und mich an ihr Herz gedrückt.

      »Nicht jedes Märchen hat ein glückliches Ende und nicht jedes glückliche Ende braucht ein Märchen. Dein Vater hat mir wundervolle Töchter geschenkt. Doch Liebe konnte er nicht geben. Ich hoffe, dass du mir eines Tages verzeihen kannst.«

      Ich wusste nicht, was sie meinte, bis mein Rufen in der Nacht unbeantwortet blieb, mein Vater sich immer mehr verschloss und ich zur Mutter für meine kleine Schwester geworden war.

      Und mir schwor, dass ich von diesem Fluch verschont bleiben würde.

      Man hatte von ihnen munkeln hören – den uralten Seelen, die in Felsspalten hausten und alle Geheimnisse des Meeres kannten. Meerwesen, deren Gesichter so alt waren, dass sich Muscheln auf ihrer Haut festgesetzt hatten.

      Er jagte sie alle. Das Meer färbte sich bei Sonnenuntergang blutrot, wenn das Leben wieder aus einer Meerhexe geflossen war. Es gab Gerüchte, dass ein paar wenige entkommen und in die Flussmündungen geflohen waren. Sicher vor dem Zorn des Meereskönigs, der vor Trauer über den Verlust seiner Frau wahnsinnig geworden war.

       Welche hat meiner Schwester Beine versprochen? Ein solcher Zauber ist schon für einen starken Körper mit unsagbaren Schmerzen verbunden. Wie soll ihn meine Schwester überleben?

       Ich muss mit ihm reden. Er muss sie gehen lassen. Selbst fortgehen. Sie bei mir lassen. Er muss …

      Ich schwimme mit klopfendem Herz der Abendsonne entgegen, deren Strahlen einem Wegweiser gleich durchs Wasser leuchten. Die Wellen tragen mich zum Felsen, flüstern mir zu, mich zu beeilen. Doch niemand wartet dort auf mich. Niemand, bis auf ein Stück Papier, das mit einem leuchtend roten Siegel versehen ist und mit einem Stein beschwert dem Wind trotzt.

      Ich weiß, dass der Brief für mich geschrieben wurde. Doch selbst wenn ich ihn lesen könnte, würde ich es nicht tun. Ich möchte nicht wissen, was er zu erklären versucht, was er … möglicherweise verspricht.

      Mein klopfendes Herz ist ein Verräter in meiner eigenen Brust, denn es gaukelt mir Bilder vor, in denen es mein Körper ist, den er berühren möchte.

      »Sie hat dich verdient«, flüstere ich. »Ich habe dich nur beschworen, doch sie hat an dich geglaubt. Und nur deshalb überlebt.«

      Ich greife nach dem Papier und werfe den Brief ungeöffnet ins Meer. Er tanzt eine Weile auf den Wellen, als würde er mir eine letzte Gelegenheit geben wollen, doch noch mein Schicksal zu ändern.

      Ich schwimme davon, während mein Herz zerbricht.

      Doch das Meer bewahrt alle Geheimnisse – und nimmt auch die Worte in sich auf, die aus der Tinte in die salzige See fließen.

      Ich weiß, was ich tun muss. Ich werde dich aufhalten. Du wird ihn vergessen und wir werden wieder glücklich zusammen durch die Wellen toben. Muschelmuster legen und …

       Sie wird ihn nie vergessen.